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Interview mit der Malerin Charlotte Walther - Wipplinger

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Interviewerin: Wann hast Du angefangen?

Charlotte Walther – Wipplinger: …. es klingt lächerlich, aber als kleines Mädchen habe ich auf die beschlagenen Fensterscheiben gezeichnet, haben mir meine Eltern erzählt. Hat mir großen Spaß gemacht, dann sind sie aufmerksam geworden, haben gesehen, dass ich zeichnen kann, haben mir Bleistift, Papier und Buntstifte gegeben. Ich habe immer sehr viel gezeichnet, ich habe Freude gehabt daran.

I.: Wie alt warst Du, viele Kinder …

Ch. W. – W.: Mit zwei Jahren habe ich angefangen.

I.: Ah, mit zwei Jahren? Das ist ein Unterschied.

Ch. W. – W.: Und dann habe ich immer unablässig und sehr viel gezeichnet als Kind. Und dann in der Schule natürlich sind sie auch aufmerksam auf mich geworden. Dann habe ich immer Freude an Bäumen, an Blumen gehabt. Ich hab‘ mich jedes Jahr auf die Rosen gefreut. Bin jeden Morgen hinunter und hab‘ geschaut, wie weit sie sind. War immer froh, wenn sie aufge- blüht sind. Dann erinnere ich mich an eine Lindenlaube, wenn die Sonne durch diese jungen, grünen Blätter geschienen hat, also dieses Goldgrün, wie ich es bei mir immer genannt habe und dann …

I.: Das hat Dich doch später auch noch fasziniert.

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Aus welchen Jahren sind Deine Blumenbilder?

Ch. W. – W.: Aus den dreißiger, fünfziger, siebziger, achtziger Jahren.

I.: Die Blumenbilder, die hast Du in den letzten Jahren wieder aufgenommen.

Ch. W. – W.: Ja, aber das Thema hat mich immer beschäftigt. Ich sehe noch heute vor mir die Buchenallee im Garten meiner Eltern, mit diesen schönen frischen Blättern, von der Sonne durchleuchtet. Die Sonnenkringel am Boden und das wollte ich immer malen. Ich habe als Kind gedacht, das ist sehr schwer wiederzugeben, aber das möchte ich. Dann hat mich interessiert auch diese Veränderung der Farben. Mir ist aufgefallen, dass die Dämmerung die Farben ändert. Da ist eine Sache, an die ich mich erinnere … vielleicht war ich 10, 12 Jahre alt, da habe ich eine orangefarbene Strickweste gehabt, die violett eingefasst war, also Komplementärfarben. Und dann, in der Dämmerung, plötzlich war es irgendwie umgekehrt. Da war das Orange ganz dunkel und das Violett war hell. Das hat mich ganz verblüfft, und dann haben mich auch die Dämmerungsfarben oder die Nachtfarben interessiert. Ich habe mir gedacht, das müsste man malen.

I.: Hast Du Sachen in Deinen Bildern auch irgendwie verwendet, die Dämmerungsfarben?

Ch. W. – W.: Manchmal schon, ja.

I.: In welchen Bildern, welches Bild ist dafür typisch? Oder fällt Dir im Moment keines ein?

Ch. W. – W.: Doch, aber ich weiß nicht, ob viele das verstanden haben, was ich damit meine.

I.: Dieses Ölbild mit dem Haus, ja das ist Dämmerung. Das ist doch Dämmerung?

Ch. W. – W.: Etwas, ja, das ist der Abend. Aber frühe Dämmerung .. rosa Himmel ja, mit rosa Himmel. Und dann gibt es noch Bilder, es sind aber einige verloren gegangen, es sind ja eine Menge verloren gegangen.

I.: Aquarelle, einige, nicht?

Ch. W. – W.: Auch Zeichnungen, Ölbilder sind verloren gegangen. Da gab’s eins mit einem Abendhimmel mit einer Frau mit einem etwas gequälten Gesicht und einer Goldhaube, das ist verschwunden, bei Kriegsende. Das war noch im Atelier … Dann ist noch eines, das ist ein Bild mit einem apfelgrünen Himmel, ganz dunkel die Landschaft und ein Mensch, der fast mit der Landschaft verschwimmt.

I.: Hast Du das noch?

Ch. W. – W.: Ja, das habe ich noch.

I.: In welchem Alter hat sich der Wunsch gebildet, Malerin zu werden?

Ch. W. – W.: Immer schon eigentlich.

I.: Seit Du denken kannst?

Ch. W. – W.: Ja, immer.

I.: Was war in Deiner Kindheit sonst noch wichtig für Dich, außer Malen und der Liebe zu Bäumen und Blumen?

Ch. W. – W.: Lange Streifzüge machen und auf Bäume klettern, in dem Riesengarten mit den gewaltigen uralten Bäumen, am liebsten im Sturm, schaukeln in den obersten Baumwipfeln und singen dabei. Merkwürdig, die heutigen Kinder tun das nicht mehr. Ich habe nie eine mächtigere Eiche gesehen, als die achthundert Jahre alte, sie hatte Platz, sich auszubreiten. In ihrer Krone, am Ansatz, habe ich mir ein Haus gebaut.

Meine weiten Streifzüge durch Wiesen, Felder und Wälder habe ich allein gemacht, kein anderes Kind hätte das interessant gefunden. Ich habe Blumen gepflückt, Brombeeren gesammelt und meiner Mutter gebracht, ich habe den Lauf der Bäche verfolgt und wollte zu den Quellen vordringen. Das leise Murmeln, die Klarheit des Wassers, die Libellen – ich glaube, es gibt kaum noch welche, seit Jahren habe ich keine mehr gesehen. Und dann das Lesen war sehr wichtig für mich. Seit ich die Buchstaben kenne, bis jetzt habe ich sehr viel gelesen. Im Bücherschrank meiner Eltern fand ich viel, angefangen mit Theodor Storm, Gottfried Keller, Wilhelm Raabe, Stifter, Schiller, Goethe, Shakespeare, dann später die Philosophen Plato, Seneca, Epiktet, Marc Aurel, Montaigne, dann fand ich den Koran, Buddhas Reden, das Traktat über die Malerei von Leonardo da Vinci, ein Buch mit Bildern von Turner, ich kann nicht alles aufzählen, das ist das, was mir zuerst einfällt. Leonardo da Vinci und Turner sind zwei ganz ganz Große, die mir schon damals einen tiefen Eindruck gemacht haben. Ja, dann fallen mir noch ein Anatole France, Romain Rolland, Aldous Huxley, Stucken.

Die Musik darf ich nicht vergessen. Meine Mutter sang, sie hatte eine schöne Stimme, mein Vater spielte ausgezeichnet Geige. Wir drei Kinder hatten Musikunterricht, Klavier und Geige. Es wurde Hausmusik gemacht. Mein Vater spielte täglich Geige, Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, auch Opernmelodien. Es ist gut für ein Kind, mit Musik aufzuwachsen. Die schönen Melodien, die jetzt im Augenblick entstehen, hinüberzunehmen in den Schlaf.

I.: Wie haben Dich Deine Eltern erzogen?

Ch. W. – W.: Eigentlich gar nicht. Nur durch ihr Beispiel. Und dadurch, dass sie mir auf meine vielen Fragen geantwortet haben.

I.: Waren Deine Eltern einverstanden, dass Du Malerin wirst? Haben sie das gefördert?

Ch. W. – W.: Nein, das nicht. Sie haben wohl gesehen, dass ich in der Richtung begabt bin, aber sie fanden, es wäre unvernünftig , Malerei zu studieren, das wäre sozusagen „brotlose Kunst“. Sie wollten lieber, dass ich etwas Praktisches mache, also meine Sprachbegabung ausnütze oder dann eventuell auch, dass ich Journalistin werde. Ich habe Kritiken geschrieben, früh schon, an Stelle meines Vaters, wenn er keine Zeit hatte, Theaterkritiken.

I.: Hat Dein Vater Theaterkritiken geschrieben?

Ch. W. – W.: Ja, nebenbei.

I.: Hast Du sie selber signiert oder hat er signiert?

Ch. W. - W.: Einfach mit einem Buchstaben, W, das war ja auch meiner.

I.: Aber es lief als Kritik Deines Vaters.

Ch. W. – W.: Das weiß ich gar nicht.

I.: Wieso hast Du dann doch Malerei studiert? Gegen den Willen Deiner Eltern?

Ch. W. – W.: Ich habe sehr darum gekämpft. Ich habe dann beides gemacht, Universität und Akademie gleichzeitig. Erst in Hamburg, zwei Semester, dann in Wien, auch Akademie und Universität und in Paris auch. In Paris war ich am längsten, da war ich Werkstudentin, es war ja Devisensperre, die 100 Mark, die mir meine Eltern schicken durften, reichten nur fürs Zimmer, ich habe deshalb an der Pariser Berlitz School unterrichtet, um das Fehlende hinzuzuverdienen. Es war eine harte, aber schöne Zeit.

I.: Wenn Du Akademie und Universität und Arbeit gleichzeitig gemacht hast, zugleich, was hat das bedeutet, dass Du dann …

Ch. W. – W.: …das einteilen musste, ja.

I.: Hast Du Kunstgeschichte studiert oder was noch?

Ch. W. – W.: Vieles, ja …

I.: Also parallel Kunstgeschichte studiert.

Ch. W. – W.: Kunstgeschichte, Sprachen, Völkerkunde, also Verschiedenes, nicht nach Plan. Was ich ausgesucht habe, was mich interessiert hat.

I.: Also eher ein Studium generale, ja?

Ch. W. – W.: Ja. Aus diesen Gebieten habe ich mir Verschiedenes ausgesucht, was mich da interessiert hat. Und dann die Akademie.

I.: Und warum bist Du nach Paris gegangen?

Ch. W. – W.: Weil mich von jeher die Franzosen fasziniert haben.

I.: Welche?

Ch. W. – W.: Da sind eine Menge aufzuzählen. Cézanne, Manet, Degas, Monet, Gauguin, van Gogh, Toulouse-Lautrec …

I.: Und was sagst Du zu Paula Modersohn-Becker?

Ch. W. – W.: Eine großartige Malerin. Viel zu spät hat man ihr in der Kunstgeschichte den Platz gegeben, der ihr zusteht. 1959 war ich das erste Mal in Bremen, da habe ich die vielen Bilder gesehen, die dort hängen.

I.: Dr. Hilger hat gesagt, einige Deiner Bilder hätte sie gemalt haben können, wenn sie länger gelebt hätte.

Ch. W. – W.: Unser Jahrhundert ist härter, zwei Weltkriege, die Drohung der Atombombe, das In-Frage-stellen aller Werte, auch der Kunst. Paula Modersohn-Becker ist 1876 geboren, ich 1911, 35 Jahre Unterschied, aber da ist wohl eine innere Verwandtschaft. Ich muss an das denken, was Gauguin über die Impressionisten gesagt hat: „Sie suchen im Auge, statt im Geheimnisvollen der Seele“. Dazu fällt mir etwas ein, es hat mich immer sehr angerührt, wenn mich Bilder und Plastiken angesehen haben, über die Jahrhunderte, Jahrtausende hinweg. Die Alabasterdame aus Uruk, mit dem ernsten, sensiblen Mund, aus vorgeschichtlicher Zeit. Die bekannten ägyptischen, griechischen, römischen Bildwerke. Die Mumienporträts mit diesen großen Augen. Die iberischen Plastiken, die sind ja weniger bekannt. Mir bedeutet die „Dama de Elche“ sehr viel. Immer wieder habe ich sie mir in Madrid angesehen. Wunderschön sind auch die Porträtköpfe aus Terrakotta und Bronze aus den Städten Ife und Benin, im Sudan, genauer gesagt, in Nigeria. Dort gab es zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert eine Hochkultur. Ich kann nicht alles aufzählen … Man nimmt das Alter der Menschheit mit 3 Millionen Jahren an. Wir können kunstgeschichtlich einen Zeitraum von 6000 Jahren überblicken, glaube ich. Das ist eine relativ kurze Zeitspanne, 240 Generationen. Es sind noch immer die gleichen Gesichter in ihrer unendlichen Vielfalt. Die gleiche Intelligenz, die gleiche Empfindungsfähigkeit spiegelt sich in ihnen. Ein Beispiel: ich habe eine Enkelin, die hat ein absolut etruskisches Gesicht, die gleichen Proportionen, die sehr hohen Augenbrauen, das archaische Lächeln, das wiederum die frühen Apollostatuen aus Kleinasien auch zeigen.

I.: Welchen Einfluss haben Deine Akademieprofessoren auf Dich gehabt?

Ch. W. – W.: Keinen. Ich hab‘ ja glücklicherweise immer Lehrer gehabt, die mich nicht beeinflussen wollten. Also zuerst war ich in Hamburg bei Illies, der hat mir überhaupt nicht dreingeredet, dann war ich in Wien bei Fahringer, der hat mir auch nicht dreingeredet, dann war ich in Paris bei Charles Blanc, der mir sogar gesagt hat, ich soll in den Cours sans professeur gehen, weil ich meinen eigenen Stil schon hätte, hat er gemeint. Er könnte mir da nichts sagen, da bin ich dann in den Cours sans professeur in der Académie de la Grande Chaumière gegangen, wo Maler waren, die schon fertig waren. Und da haben wir gemeinsam das Modell ausgesucht und bestimmt, welche Position es haben soll.

I.: Welche Ölbilder sind damals am Anfang entstanden?

Ch. W. – W.: Die blasse Frau und dieses Mädchen, aus der Faubourg, diese Negerin, das war noch …

I.: Wie war die Reaktion der anderen?

Ch. W. – W.: Bei der blassen Frau sind sie zusammengelaufen und es hat ihnen allen sehr Eindruck gemacht, da hat einer von ihnen gesagt: „Qui a fait ça? C’est fin, c’est délicat“.

Es hat mich aber auch sehr fasziniert, das war ein Modell, das sehr ungern Modell gesessen ist. Man hatte das Gefühl, es ist jemand, der gar nicht in dieses Milieu passt. Sie hatte einen Schal um, wenn sie den weggab, um sich zu entblößen, wurde sie immer wieder über und über rot. Sie hatte eine Atmosphäre von Distanz und Reserviertheit um sich.

I.: Schamhaft?

Ch. W. – W.: … nein, schamhaft ist nicht der richtige Ausdruck. Sie hat gelitten, man hatte das Gefühl, sie ist darauf angewiesen, sie hat kein Geld, sie muss es tun, es ist ihr entsetzlich schwer gefallen. Und das hat man so gespürt wie eine Mauer, die sie um sich gebaut hat und das hat mir sehr großen Eindruck gemacht. Keine schöne Frau, die Augen waren eher klein und fahles blondes Haar und der Mund fast wie eine schorfige Wunde, das alles hat sich mir mitgeteilt und auch in den Farben wirkt sich das irgendwie aus.

I.: Wie hat sich Dein Bild von den anderen Bildern unterschieden, das war ja das allgemeine Modell …

Ch. W. – W.: Da hab‘ ich überhaupt nichts in Erinnerung … hat mich auch nicht interessiert. Ich war sehr fasziniert von diesem Modell, es war diese Art von Modell, wie ich es gerne habe, also, dass keine Nähe da ist zum Modell und das Modell da sitzt, eingesponnen in sein eigenes Selbst und sich distanziert von allem, was rundherum ist. Es ist unangenehm jemanden zu malen, der da sitzt und darauf wartet, schön gemalt zu werden oder eben der sich bewusst ist, dass er da sitzt, dass da ein Bild entstehen soll. Das ist etwas, was mir entsetzlich ist. Ich mag haben, dass da jemand ist, der gar keine Notiz nimmt, der einfach da ist.

I.: Und die Negerin, war das auch ein Modell?

Ch. W. – W.: War auch ein Modell, ja.

I.: In der Académie.

Ch. W. – W.: In dem Cours sans professeur.

I.: Da habe ich den Eindruck von Freiheit und Selbstbewusstsein als Frau, bei dieser Negerin.

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Da ist etwas Ungezügeltes, Wildes.

Ch. W. – W.: Ja, das hatte sie. Ja. Es war schön, diese Metalltöne, diese Bronzetöne der Haut haben mich fasziniert, dieser Schimmer. Sie hat auch den Kopf hoch aufgerichtet, fest geradeaus geschaut. Und dann war dieses Mädchen aus der Vorstadt.

I.: Hast Du das Bild noch?

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Das hat ja allen besonders gut gefallen … dem Dr. Schulz und dem Netzel, dem Dr. Hilger, da waren alle begeistert von diesem

Bild. Was hat Dich da besonders gereizt? 

Ch. W. – W.: Der Ausdruck, dieses ins Schicksal Ergebene und diese

Resignation in dem Gesicht. 

I.: Die hat ja auch etwas Sprödes.

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Nichts Schamhaftes, sondern …

Ch. W. – W.: Die war schon so weit, die war schon so resigniert, da war kein Platz mehr für andere Gefühle, sie war so weit weg.

I.: Sie muss ja auch eine junge Frau gewesen sein, jünger als die andere.

Ch. W. – W.: Ja, sie war jünger, sicher. Da hatte man das Gefühl, es ist ein Mädchen, das in Schwierigkeiten gekommen ist, das ein Kind erwartete. 

I.: Und sich so durchbringen musste.

Ch. W. – W.: Ja, mit Modellstehen. Das hat mich sehr angerührt. 

I.: Ich muss auch sagen, ich finde das ein besonders gutes Bild. Die blasse Frau auch.

Ch. W. – W.: Mir ist die blasse Frau das liebste.

I.: Ja, das kann ich mir schon vorstellen. Aus welchem Jahr ist das Bild? 1933?

Ch. W. – W.: Ich glaube, ja.

I.: Und wie heißt es?

Ch. W. – W.: Mädchen aus Faubourg.

I.: Hast Du eigentlich weniger Männer gemalt?

Ch. W. – W.: Mag sein. Es hat sich so ergeben.

I.: Mir gefällt auch noch das Bild dieses Mannes mit den durch- scheinenden Ohren, am Fenster stehend und der Landschaft dahinter. Es ist so ernst und düster.

Ch. W. – W.: Ja, schwere Zeiten waren das damals …

I.: Wo ist das entstanden?

Ch. W. – W.: In Hamburg.

I.: Das war davor oder danach?

Ch. W. – W.: Nach Paris.

I.: Wann ist es entstanden?

Ch. W. – W.: Ich glaube 33, 34 oder 35, das weiß ich nicht genau. Ich weiß es nie genau.

I.: Ah ja. Und die Landschaft mit dem roten Haus, den Bäumen, der Straße?

Ch. W. – W.: Doch, auch aus der Zeit, ja.

I.: Es ist auch Hamburg, ja, in der Nähe von Hamburg?

Ch. W. – W.: Ja, Vorort.

I.: Nicht in Hamburg.

Ch. W. – W.: Nein, nicht in Hamburg, außerhalb.

I.: Irgendein Dorf oder …

Ch. W. – W.: Ja, ein Vorort, der noch zum Teil dörflichen Charakter hatte.

I.: Und dann diese skizzierte Landschaft, das ist doch auch aus der gleichen Zeit?

Ch. W. – W.: Die Fabrikslandschaft?

I.: Ja.

Ch. W. – W.: Ja, auch.

I.: Das ist auch in der Gegend.

Ch. W. – W.: Auch in der Gegend, ja. In derselben Gegend.

I.: Und dann hast Du mehr Landschaften in Aquarell gemalt, nicht?

Normalerweise. 

Ch. W. – W.: Beides eigentlich. Hier ist auch noch diese Parklandschaft.

I.: Wo ist die Parklandschaft? Haben wir die dabei?

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Ah ja, wo ist die entstanden? In Norddeutschland?

Ch. W. – W.: Zur selben Zeit, auch bei Hamburg.

I.: … Auch 1934?

Ch. W. – W.: Ja, 34 oder 35, das weiß ich nicht genau.

I.: Die Parklandschaft, welcher Park ist das?

Ch. W. – W.: Bei meinen Eltern.

I.: Da ist etwas Wildes. Gab es einen Sturm?

Ch. W. – W.: Ja, es sind welche umgefallen, Bäume. …

I.: Du hast Dich immer besonders für Menschen interessiert?

Ch. W. – W.: Ja. Was mir wichtig war, war immer der einzelne Mensch, der hat mich immer interessiert. Der einzelne Mensch und sein Leiden, vor allen Dingen, hat mich interessiert. Sein Leiden, seine Sprachlosigkeit und das Nichtverstandenwerden.

I.: Bei diesem Akt „Auf dem Boden Sitzende“, hat man irgendwie den Eindruck, es ist Dir mehr um die Haut gegangen, um das Fleisch oder die Haut.

Ch. W. – W.: Ja, da hat man das Gefühl gehabt, da ist eine gesunde Körperlichkeit, da war das Gesicht gar nicht so wichtig. Bei den anderen beiden aber, war das Gesicht sehr wesentlich. Diese perlmutterfarbene Haut hat mich vor allem interessiert bei der Sitzenden.

I.: Es werden doch immer von Deinen Kritikern oder allen Leuten, mit denen Du Kontakt hast, sehr die Schattierungen der Haut gelobt.

Ch. W. – W.: Schattierungen ist schlecht ausgedrückt, das sind nicht Schattierungen, sondern die Töne, würde ich sagen, Tönungen, diese vielen feinen Tönungen, die die Haut hat, dieses Schimmernde, dieses Lebendige, dieses fast Irisierende, das Pulsierende, Atmende, das hat mich interessiert.

I.: Ich wollte nach Ausstellungen fragen. Wann war Deine erste Ausstellung?

Ch. W. – W.: In Paris, in der Galerie Vignon, die ist ja in der Nähe von der Madeleine. Es ist eine gute Galerie, ich weiß nicht, ob sie heute noch existiert, damals hatten bekannte Leute wie

Utrillo dort ausgestellt, der Inhaber der Galerie hat meine Sachen gesehen und hat sofort zugegriffen.

I.: Weißt Du noch den Namen?

Ch. W. – W.: Ja, das war ein deutscher Emigrant, Ostertag hat er geheißen.

I.: Entschuldigung, ich hab‘ Dich unterbrochen, was hat er gesagt zu Deinen Bildern?

Ch. W. – W.: Die haben ihm sehr gut gefallen und er hat gleich eine Anzahl ausgesucht und hat sie ausgestellt. Und das war aber kurz bevor ich von Paris weg bin und nachher hab‘ ich mich gar nicht mehr darum gekümmert.

I.: Da sind auch einige verloren gegangen?

Ch. W. – W.: Ja, die habe ich nie wieder gesehen.

I.: Wieviel Bilder etwa? Aquarelle, nicht?

Ch. W. – W.: Aquarelle, ja. Wie viele weiß ich nicht mehr.

I.: In welchem Jahr war das?

Ch. W. – W.: Das muss gewesen sein 34.

I.: Also bevor Du nach Hause kamst.

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Also das war diese Galerie. Und dann in Hamburg?

Ch. W. – W.: Hier kannte ich den Menke, der selber Maler war, der meine Bilder gesehen hat. Sie hatten ihm gefallen und da hat er mich mit seinem Galeristen bekannt gemacht. Das war Lüders. Der hatte eine Galerie, die nannte sich Kunstraum Lüders in der Admiralitätsstraße. Und der ist also gekommen, hat sich das angeschaut, und er hatte gerade Ausstellungen mit verschiedenen Leuten, Barlach war dabei, dann Spangenberg, wie hieß der andere, Kronenberg glaube ich und noch mehr, das hab‘ ich jetzt vergessen. Also diese waren das, an die erinnere ich mich. Und da hat er Bilder von mir dazu genommen. Und ich wurde ganz besonders erwähnt in der Kritik, und da hat er eine

Einzelausstellung von mir gemacht. Da hab‘ ich ziemlich viel verkauft und hatte auch Porträtaufträge. Und dann habe ich, ich weiß nicht genau, noch zwei oder drei Ausstellungen im Kunst- verein und da waren auch Bilder von mir ausgestellt, aber da wurde die Ausstellung meinetwegen geschlossen. Es hat geheißen „entartete Kunst“, zwei meiner Bilder mussten entfernt werden.

I.: Welche Bilder waren das?

Ch. W. – W.: Das war ein Bild Mutter und Kind und ein Bild meiner Mutter.

I.: Hast Du das Bild … Mutter und Kind noch oder gibt’s das nicht mehr?

Ch. W. – W.: Das weiß ich gar nicht mehr. Zuletzt hat es der jüngere meiner Brüder gehabt. Aber das andere habe ich.

I.: In welchem Jahr war das?

Ch. W. – W.: Das ist schwer zu sagen, weiß ich nicht. Das muss 36, 37 gewesen sein, das weiß ich nicht mehr.

I.: Hast Du etwas unternommen?

Ch. W. – W.: Schon, ja. Also bin ich da hingegangen zu dem Mann, der das veranlasst hat, irgendein Funktionär war das. Und habe gesagt, wieso? Als ich aber dort gemerkt habe, das ist selber ein Maler – ich weiß sogar den Namen noch, möchte ihn aber nicht nennen – und ich dort Bilder von dem gesehen habe, die waren sehr konventionell, und durchschnittlich, da habe ich mir gedacht, naja wundert mich nicht. Aber ich möchte nicht, dass das irgendwo erwähnt wird, denn es ist so billig, wenn man jetzt sagt, ich habe in dieser Zeit gelitten, das will ich nicht machen. Absolut nicht, also auf gar keinen Fall möchte ich, dass das erwähnt wird.

I.: Ist ja auch das einzige Mal gewesen, dass eine Ausstellung geschlossen wurde.

Ch. W. – W.: Ja. Das habe ich fast als Kompliment aufgefasst.

I.: Wieso das?

 

Ch. W. – W.: Naja, das ist doch nicht so schwer zu verstehen. Ich habe mich jedenfalls nicht davon irgendwie beeinflussen lassen.

I.: Das waren Ölbilder in dieser Ausstellung?

Ch. W. – W.: Ja.

I.:Was hast Du zu dieser Zeit eigentlich mehr gemacht, Ölbilder oder Aquarelle?

Ch. W. – W.: Eigentlich immer beides. Immer beides. Je nachdem, wie mich das interessiert hat, wie ich gefunden habe, das eignet sich mehr für das eine oder für das andere.

I.: Kann man das einfach beantworten, was kam mehr an oder ist das zu simpel gestellt, diese Frage.

Ch. W. – W.: Was die Leute mehr gekauft haben, waren natürlich die Aquarelle.

I.: Weil es ihnen angenehmer war oder weil es auch im Preis günstiger war?

Ch. W. - W.: Wahrscheinlich beides. Und dann haben die damals gefunden, in Paris schon und auch in Hamburg und Wien, dass es eine neue Technik ist.

I.: Diese Technik gab es damals nicht?

Ch. W. – W.: Ja, ich hab‘ nicht gesehen, dass das wer anderer gemacht hätte. Ich habe sehr nass gemalt und das Wasser fließen lassen und dann den Moment festgehalten, wo die Farbe sich so setzt und so körnt, wie es mir gefällt, und das ist eine schwierige Sache, dass man das im richtigen Moment erwischt. Das ist sehr spannend.

I.: Als Hundertwasser damals hier im Haus war mit seinem Schwarm oder Tross, mit seinen Kappenmachern und diesen Leuten, da hat er doch auch zu Dir gesagt …

Ch. W. – W.: Ja, da hat er das sehr merkwürdig gesagt: „Diese Dinge sind sehr schön, mit diesen Dingen kann man leben“, so hat er damals gesagt.

I.: Und er hat auch gesagt, zu Deinen Zeiten …

Ch. W. – W.: Ja, er hat noch gesagt: „Für Ihre Zeit müssen Sie ja geradezu revolutionär gewesen sein“. Ich habe ihn gefragt im Laufe des Gesprächs: “Wie haben Sie das gemacht, dass Sie sich Ihre Kindlichkeit bewahrt haben?“

I.: Hast Du zu Hundertwasser gesagt?

Ch. W. – W.: Ja, und da hat er gesagt: „Die habe ich mir nicht bewahrt, die habe ich mir wieder erworben“. Aber ich möchte auch nicht Hundertwasser erwähnt haben.

I.: Na, das macht ja nichts. Ich frage dich ja nur. Wie war das damals, als er kam? Ihr wart …

Ch. W. – W.: Wir waren ganz überrascht, dass er plötzlich da mit seinem Anhang erschien, es waren zwei Männer mit so merk- würdigen Ballonmützen, so Kappen mit Schirmen, sehr bunt, blau, rot, sehr leuchtend und noch eine ganz normale Dame mit ihrer Tochter. Es war ein recht interessantes Gespräch. Er spricht sehr langsam, sehr überlegt.

I.: Wie findest Du denn seine Malerei?

Ch. W. – W.: Er hat schöne Farben, er ist gut in der Komposition. Ich kann mir vorstellen in großen, weißen, hohen, modernen, hellen Räumen ein großes Bild von ihm, das kann sehr schön aussehen.

Wie ein Wandteppich. 

I.: In welchem Jahr hat er den Besuch gemacht?

Ch. W. – W.: Ja, wann kann das gewesen sein? Als die Gisi auf der Akademie war, das muss gewesen sein, ach, das ist jetzt lang

her, das ist jetzt etwa 16, 17 Jahre her. 1967 … 

I.: … Wir haben eben von Hildesheim gesprochen, wo sie Deinet- wegen die Ausstellung geschlossen haben.

Ch. W. – W.: Naja, dann sind wir plötzlich übergesprungen. Du hast von Hundertwasser angefangen, aber da haben wir versäumt zu sagen, dass wir ja 1938 wieder nach Österreich übersiedelt sind. Und in Weitenegg gewohnt haben. Und da waren wir ja bis 1945.

I:. Hast Du in dieser Zeit von 1938 – 1945 irgendwie ausgestellt oder …

Ch. W. – W.: Ja, ich hab mich eigentlich überhaupt nicht gerührt. Auch nach den Erfahrungen in Hildesheim. Was damals so gemacht wurde, das war mir teilweise doch etwas zu glatt und ich habe mir gedacht, da sollte ich nicht hin. Aber dann sind sie zu mir gekommen und haben mich gebeten, da teilzunehmen an Ausstellungen, und dann habe ich mich an dieser großen Aus- stellung in Brünn beteiligt. Das war eine festliche Sache, auch mit Konzerten usw.

Und dann war noch eine Wanderausstellung, das war also eine der letzten, die überhaupt noch stattgefunden hat, die ist durch ganz Österreich gegangen, von Stadt zu Stadt.

I.: Vor Kriegsende?

Ch. W. – W.: Vor Kriegsende, ja. Ich weiß nicht mehr in welchem

Jahr, ich weiß nur, dass es eine der letzten war, die stattgefunden hat, vielleicht die letzte. Da waren Bilder von mir dabei, einige, und die sind auch wieder verloren gegangen. Die Bilder waren weg.

I.: Waren das Aquarelle?

Ch. W. – W.: Von jedem etwas, soweit ich mich erinnere.

I.: Hat man Fotografien von ihnen?

Ch. W. – W.: Auch nicht mehr. Nein, hab‘ ich nicht.

I.: Was waren da für Bilder?

Ch. W.- W.: Ich erinnere mich eigentlich nur an drei. Es waren aber mehr. Ein Bild von der Moje, ein Bild von einer Frau mit dunklen Haaren und an ein Aquarell mit zwei Frauen erinnere ich mich konkret, an die anderen erinnere ich mich nicht mehr. Habe nie wieder davon gehört. Niemand hat seine Bilder wieder zurückbekommen, es ist wahrscheinlich alles in den Kriegs- wirren untergegangen, ja. Und dann kam das Kriegsende, da hab‘ ich in letzter Minute noch in die Zwischenwand vom Atelier einige Bilder hineingeworfen, etliche Bilder, und Mappen.

I.: Und dann zugemauert, oder wie?

Ch.W. – W.: Nein, die war noch offen, da oben. Da war gerade gebaut worden, und da konnte man was hineintun. Aber wie ich nachher gehört habe, hat man das gefunden und herausgeholt.

I.: Hast Du sie wieder bekommen?

Ch. W. – W.: Nein, hab‘ ich nicht mehr wieder bekommen. … Aber einige Bilder sind gerettet worden und zwar durch eine Verwandte, die war dann hier, als die Russen in unserem Haus waren. Die hat das irgendwie geschafft, da hineinzukommen und einiges herauszuholen.

I.: Und hat sie dann die Bilder aufbewahrt?

Ch. W. – W.: Die hat sie aufbewahrt, ja.

I.: Und die anderen Ausstellungen, die Du in Wien dann hattest?

Ch. W. – W.: Ja, das war dann nach dem Krieg. Nach dem Krieg, da war eine Ausstellung in der Sezession, da habe ich mich beteiligt und da wurde auch etwas gekauft, erinnere ich mich. Dann habe ich in der Galerie Würthle, der Name hat gewechselt, erst Würthle, dann Welz, dann wieder Würthle, eine sehr, sehr gute Galerie in der Weihburggasse im I. Bezirk. Wirklich eigentlich die beste würde ich sagen, in Wien. Da hab‘ ich auch ausgestellt nach dem Krieg. Und da ist man aufmerksam geworden auf mich. Und dann war eine Einladung der Amerikaner nach Schloß Leopoldskron bei Salzburg. Die haben junge Künstler eingeladen nach Leopoldskron, drei Wochen dort zu sein.

I.: Das waren Künstler?

Ch. W. – W.: Da waren Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Musiker. Die Beauftragten der Amerikaner sind z.B. durch die Galerien gegangen und haben sich die Bilder angeschaut und haben ausgewählt.

I.: Du warst also auch unter den Ausgewählten.

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Und warst dann drei Wochen auf Schloß Leopoldskron.

Ch. W. - W.: Ich war drei Wochen dort. Es war sehr interessant. Da habe ich Zeit zum Malen gehabt.

I.: … malen auch?

Ch. W. – W.: Ja, da haben wir gemalt und haben Gespräche geführt, es waren Lesungen, es waren Konzerte. Wir haben auch im Freien gemalt, das hab‘ ich angeregt, dass wir das tun. Einige von uns haben sich da zur Verfügung gestellt und sind Modell gestanden. Es waren Bekannte von den jungen Künstlern da. Es war da der Fuchs, der Absalon, der Moldowan, der Otto Beckmann, verschiedene andere, im Moment fällt mir niemand anderer ein. Es war eine sehr anregende Zeit, auch interessant. Ach ja, der Wander Bertoni war noch da, als Bildhauer.

I.: Wann war das, in welchem Jahr?

Ch. W. – W.: Ich glaube 48 oder 49.

I.: Wie hast Du denn die Kriegszeit und das Kriegsende erlebt?

Ch. W. – W.: Ja, die Bomber kamen immer häufiger. Wir haben nicht gerechnet, dass hier einmal Bomben fallen. Wir haben sehen können … die Luftkämpfe, wie die Flugzeuge brennend abstürzten. Aber einmal war hier ein Notwurf, da haben sie 200 Bomben geworfen und wir – mein Mann war gerade auf Urlaub – waren mit den Kindern im Freien und haben die Kinder niedergeworfen und uns auf sie draufgelegt und das ganze Tal war erfüllt von Pulvergeruch und von Rauch und Staub und wir sind dann schnell noch in den Tunnel geflüchtet. Von da an wurde es immer schlimmer. Die Älteste hatte einen weiten Schulweg nach Melk und war gefährdet, denn da kamen schon

Tiefflieger und wieder Bomben und dann hat es nicht mehr lange gedauert, dann kam die Flucht. Es war der Himmel schon rot in Richtung St. Pölten, da wurde gekämpft, und da hat mich mein schwer verwundeter Bruder herausgeholt hier mit unserem letzten Wagen. Er hat Lazaretturlaub bekommen und hat uns nach Tirol gebracht, in den äußersten Westen. Die Fahrt war sehr unangenehm, Tieffliegerbeschuss, Bombenangriffe, bis wir endlich dort waren. Da war gerade eine Lawine gefallen, schwer durchzukommen. Wir waren dann in Ischgl in Tirol, da waren wir auf 1800 m Höhe, dann nachher in Nassereith, weil man dort in Ischgl nichts zu essen bekommen hat.

I.: … habt Ihr Geld genug mitgehabt oder …

Ch. W. – W.: Nein. Man konnte ja nicht so viel abheben und die Flucht war ziemlich überstürzt. Es sind hier natürlich schreckliche Dinge passiert. Ich bin froh, dass wir noch weggekommen sind. Und dann ja, wovon ich gelebt habe. Wir haben sehr gehungert, weil die Lebensmittelversorgung nicht mehr geklappt hat. Wir haben Brennnesseln und Berberitzen und Preiselbeeren gesucht, es war sehr schwierig. Dann später war die Besatzung da, die französische. In Ischgl war keine, aber da kamen die immer herauf und dann hat sich’s rumgesprochen, dass da eine Malerin ist und dann habe ich

Porträts gemacht und habe mir damit Geld verdient und vor allen Dingen Lebensmittel, um die Kinder zu ernähren. Im Juli kam mein Mann sehr abgemagert aus amerikanischer Kriegs- gefangenschaft. Es war eine sehr schwere Zeit. Im März 1946 ging er nach Wien um zu versuchen, eine neue Existenz aufzu- bauen.

I.: Ihr konntet ja nicht zurück nach Weitenegg …

Ch. W. – W.: Nach Weitenegg konnten wir nicht zurück. Unser Besitz war von den Russen beschlagnahmt. Ich blieb mit den Kindern in Tirol.

I.: Bist aber später dann nach.

Ch. W. – W.: Wir kamen dann später nach Wien nach.

I.: Bist Du da zum Malen gekommen oder weniger?

Ch. W. – W.: Es war so eine schwere Zeit, man hatte solche Existenz- sorgen, die Menschen interessierten sich nicht für Kunst. Das kam erst allmählich wieder. Ich hab‘ mit Sprachstunden Geld verdient, und dann kamen ja wieder Ausstellungen und auch Verkäufe, wie wir schon erwähnt haben. Aber da wir fünf Kinder hatten und nicht sahen, wie wir sie ohne eine richtige Grundlage erziehen konnten, beschlossen wir, nach Argentinien auszuwandern.

I.: Die Zeit in Argentinien war immer noch sehr schwierig, aber da hast Du dann, soweit ich mich erinnere, doch Gelegenheit gehabt zu malen.

Ch. W. – W.: Ja. Ein Kollege hat ein Atelier gehabt. Dahinter war ein

Zitronen-Orangengarten. Da konnte ich hingehen und wir nahmen Modelle. 

I.: Ihr beide zusammen oder …

Ch. W. – W.: Ja, es sind noch einige dazugekommen und haben da gemeinsam gemalt. Oft Indianerinnen aus den Bergen. Der Kollege fuhr immer ins Gebirge nach Jujuy und malte dort und brachte auch hie und da Modelle mit. Auch Mestizinnen haben wir gemalt.

I.: Dann stammt das eine Bild mit dieser Frau und den Zitronen- bäumen aus dieser Zeit?

Ch. W. – W.: Aus dieser Zeit. Ja.

I.: Die so etwas tragisch aussieht.

Ch. W. – W.: Ja, das war ganz interessant. Die hatte ein sehr tragisches Gesicht. Die hatte auch ein merkwürdiges Schicksal. Sie hatte eine Narbe unter der linken Brust. Das war von einem Messerstich eines eifersüchtigen Liebhabers.

I.: Habt Ihr im Garten gemalt?

Ch. W. – W.: Im Atelier, aber auch im Garten und jedenfalls mit Blick auf den Garten.

I.: Aber in Argentinien hast Du da dann auch ausgestellt?

Ch. W. – W.: Nur im Atelier, da sind dann Leute gekommen, haben sich’s angeschaut und haben hie und da ein Bild gekauft, wie z.B. der Hans Hatschek und andere. Dann war ich auch fallweise in Rio de Janeiro. Das war wieder ein ganz anderes Ambiente. Am Meer, mit bewaldeten Hügeln, der weite Strand.

I.: Welche Bilder stammen aus dieser Zeit?

Ch. W. – W.: Ja, z.B. dieser Neger vor der Bucht, vor der Guanabara-Bucht mit dem Zuckerhut im Hintergrund und dem Corcovado.

Dann dieser Halbakt von einer fast Weißen, mit etwas Negerblut. 

I.: Das hast Du im Atelier gemalt?

Ch. W. – W.: Der Halbakt ist im Atelier gemalt, das andere im Freien.

I.: Und das musikalische bunte Bild?

Ch. W. – W.: Ja, das mit dem Durchblick durch diesen Baum mit den flammenden roten Blüten. Ich weiß nicht mehr wie er heißt, der Baum.

I.: Also war das doch eine fruchtbare Zeit?

Ch. W. – W.: Ja, das war sehr interessant.

I.: Das waren 3 Jahre, nicht?

Ch. W. – W.: Ja, abwechselnd in Buenos Aires und im Gebirge und in Rio de Janeiro.

I.: In welchem Jahr bist Du wieder zurückgekommen?

Ch. W. – W.: 1955

I.: In das düstere, kaputte Europa.

Ch. W. – W.: Ja. Wir sind zurückgekommen, mein Mann ist früher gefahren, weil der Staatsvertrag gekommen ist und da konnten wir wieder zurück auf unseren Besitz, der ausgeplündert war.

Erst hatten wir noch in Wien gewohnt, bis das Haus wieder frei war. Dann erst konnten wir wieder nach Weitenegg.

I.: Aber die ersten Bilder sind wieder Ende der fünfziger Jahre entstanden, nicht? Da waren ein paar Jahre Pause.

Ch. W. – W.: Nein, ich hab‘ immer gemalt. Mal mehr, mal weniger, wie ich Zeit fand. Und dann haben wir das alles wieder aufbauen müssen, das war ja alles weg. Es war vieles geplündert, wir mussten alles wieder neu aufbauen.

I.: Wir sitzen jetzt auf der Terrasse mit diesen herrlichen Pflanzen, es hat einen südlichen Charakter und vor allen Dingen der Terrassengarten den Berg hinauf.

Ch. W. – W.: Eine Art Patio ist das geworden, nicht. In Erinnerung an Südamerika.

I.: Das ganz verschiedene Grün, das wir hier sehen, Avocadobaum, Feigenbaum, Birnbaum, Oleander, Pfirsich, Rosen, eine ganz aparte Mischung.

Ch. W. – W.: Glyzinien, Clematis.

I.: … Weinlaub. Diese verschiedenen Grüntöne und die üppige

Blüte, das hat Dich sicherlich inspiriert auch zu den Blumen- bildern, die sehr viele Menschen schätzen.

Ch. W. – W.: Wir haben ja diesen sehr schönen Garten – auf der zweiten Terrasse mit der Felswand im Hintergrund, dieser fast ganz schwarzen Felswand.

I.: In der der Bunker ist.

Ch. W. – W.: Ja, in die wurde der Bunker mit Sprengung und Handarbeit getrieben als die Angriffe immer häufiger wurden.

I.: Ist der Bunker noch existent?

Ch. W. – W.: Der existiert noch, ja. Er ist L-förmig und die ganze Bevölkerung hat dort auch Schutz gesucht.

I.: Und darüber auf dem Berg haben wir eine üppige Vegetation auf den vier Terrassen.

Ch. W. – W.: Ja, und eben vor dieser Felswand sind diese Blumen, die verschiedenartigen Blumen und da ist eine interessante Beleuchtung. Wenn da je nach Stunde und Jahreszeit die Sonne seitlich einfällt, dann kommt dies sonnendurchleuchtete Goldgrün der Blätter, das ich so liebe und das mir in der Kindheit schon aufgefallen ist, besonders heraus.

I.: Du weißt ja, dass Dagmar Erling mir ein Bild abgerungen hat, das sie seit vielen Jahren immer bei mir angesehen hat, das ist dieses Blumenbild mit den roten Tulpen in der Mitte und den verschiedenen Grüntönen, von denen Du eben gesprochen hast.

Ch. W. – W.: Ja, aber das ist nicht so, hat nicht dieses Goldgrün. Das ist zu einer anderen Tages- und Jahreszeit. Das ist meistens besonders schön, wenn die großen Mohnblumen blühen und die Schwertlilien. Da freu‘ ich mich jedes Jahr wieder.

I.: Hast Du da auch einige Bilder?

Ch. W. – W.: Ja, da hab‘ ich einige Bilder, ja.

I.: Ölbilder?

Ch. W. – W.: Ja. Das kann man am besten mit Ölbildern.

I.: Da hast Du weniger Aquarelle gemacht.

Ch. W. – W.: Von diesem Sujet nicht, nein. Das kann man mit Öl am besten ausdrücken.

I.: In den sechziger und siebziger Jahren, was hast Du haupt- sächlich für Bilder gemalt? Mehr Aquarelle, mehr Ölbilder, mehr Zeichnungen? Da sind einige sehr schöne Zeichnungen entstanden, Aquarelle.

Ch. W. – W.: Ja, ich habe immer alles gemacht. Ich mag gerne wechseln. Nicht immer das Gleiche. Immer wieder eine andere Materie.

I.: Landschaften sind da entstanden. Es gibt einige südliche Bilder noch, das haben wir vergessen.

Ch. W. – W.: Ja, sicher. Von Reisen nach Italien und Spanien. Das haben wir ganz vergessen. Die Schleierbilder, die Frauen mit den schwarzen Schleiern, mit denen sie zur Kirche gehen.

I.: Sind da nicht drei sehr schöne Guachen?

Ch. W. – W.: Ah ja, das ist Ischia. Das ist Ischia, ja.

I.: Die in zarten Tönen gehalten sind.

Ch. W. - W.: Ja, das ist Ischia. Das ist das eine Bild mit den Fels- formationen, und dann eines mit so einer geschwungenen Mauer im Garten und eines ist eine Bucht mit einem Lavafelsen, mit einem Felsen mit einem Sonnenuntergang.

I.: Du hast sonst weniger Guachen gemacht?

Ch. W. – W.: Ja, da gibt’s noch welche aus Mallorca auch, auch am

Meer mit einem weißen Haus, mit Buchten usw. Das haben wir ganz vergessen zu erwähnen. Ich war öfter auf den Kanarischen Inseln auch und in Mallorca und auf dem spanischen Festland.

Ich weiß gar nicht mehr, wo die Bilder alle sind. Ich hab‘ ja auch verkauft und weiß nicht mehr an wen. Ich führe ja nicht Buch darüber, was ja die Maler heutzutage tun. Das war früher gar nicht so üblich. Ich weiß von Kollegen, die über jedes Bild Buch führen und wer’s gekauft hat und wann. Das habe ich eigentlich nie gemacht. Da habe ich auch nie die Zeit dazu gehabt.

I.: Was ich festgestellt habe, dass Du eigentlich nie Graphiken gemacht hast. Also die Technik der Druckgraphik, die hat Dich nie gereizt.

Ch. W. – W.: Nein, hat mich nicht interessiert, nein.

I.: Aus welchem Grund?

Ch. W.- W.: Ja, das ist mir irgendwie, das ist mir zu wenig un- mittelbar. Ich könnte mir vorstellen, dass sie mich vielleicht später einmal interessieren wird. Das Angenehme dabei ist ja, dass man das vielfach reproduzieren kann. Dass es nicht nur eine einmalige Sache ist, sondern dass man das mehrfach wiedergeben kann. Ich weiß, viele Kollegen tun das sehr gerne. Aber das Spontane interessiert mich mehr als das eher ins Handwerkliche gehende, das interessiert mich nicht so sehr. Aber ich kann mir vorstellen, dass es reizvoll sein kann …

I.: Hast Du auch geschrieben, Gedichte gemacht?

Ch. W. – W.: Ja. Immer. Ja.

I.: Weißt Du eigentlich ein paar Gedichte so aus dem Kopf?

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Möchtest Du sie sagen?

Ch. W. – W.: Ungern. Du weißt, ich spreche nicht gern von mir selber. Und so einfach meine Gedichte hersagen … Aber bitte …

Jeden Frühling 
klopft morgens eine Amsel an mein Fenster. 
Stundenlang, 
Tag für Tag, 
bis sie ermattet niedersinkt 
und liegen bleibt 
mit ausgebreiteten Flügeln, 
enttäuscht … 
Mühselig kriecht die Raupe, weiß nichts von den künftigen Flügeln. 
Reglos steh’n die Bäume 
in herbstlicher Stille. 
Rührt sich kein Blatt. 
Regenschwer schaukelt 
und einsam 
gelbliche Rose am Zweig. 
Als pulst‘ kein rotes Blut darin, 
so zart und steif 
Fasane geh’n 
auf ihren grauen Füßen, 
Spuren hinterlassend 
Schriftzeichen gleich, 
in dieser weißen Öde.

I.: Ist das zweite nicht ein Haiku?

Ch. W. -. W.: Ja.

I.: „… zuerst dadurch, dass Sie keine Modeströmungen mitmachen. Sie sind ebenso weit entfernt von dem, was auch der photographische Apparat zu leisten vermag, wie von der Faszination, die das Verzerrte, Hässliche, Morbide auf die meisten Maler unserer Tage ausübt. Charlotte Walther-Wipplinger geht andere Wege. Sie vermittelt uns die An- schauung, die ihre eigene ist, eine Anschauung, die nicht nur 
das jeweilige Modell umfasst, sondern auch immer etwas von der Atmosphäre der Landschaft, der Luft, die es umgibt.

Charlotte Walther – Wipplinger hat immer am Wasser gelebt. 

Die Stationen ihres Lebens sind mit den Namen von Gewässern zu bezeichnen. Elbe, Donau, Seine, Donau, Rio de la Plata, Südatlantik und wieder Donau. Und es ist, als wenn etwas von der fließenden Luft über fließendem Wasser in ihre Bilder eingegangen wäre, wie diffuse Luzidität über manchen von ihnen liegt. Besonders in den Aquarellen zeigt sie eine ganz neue, eigene Ausdrucksform. Schwebend, die äußerst differenzierten Farbnuancen. Fast transparent. Und doch ist in diesem Schwebenden manchmal ein ganzes Schicksal festge- halten. Sie selbst sagt: „Am liebsten malen die Heutigen gesichtslose Menschen, wirklich. Da ist das Gesicht eine leere Fläche. Das kann man dann sehr bedeutsam interpretieren. Ich aber möchte gerne im individuellen, in dem ganz einzelnen, unverwechselbaren, nicht wiederholbaren Menschen das Allgemeingültige durchschimmern lassen“. In manchen ihrer Bilder kommen uns seelische Erlebnisse, Vorgänge entgegen, die mit Worten nicht zu fassen sind. Aber spürbar uns ansprechen in einer Weise nicht nur die Augen, sondern ein Empfinden anzieht und nährt“. Das sind Worte, die Imma von Bodmershof, die österreichische Dichterin, zu den Werken von der Malerin Charlotte Walther –Wipplinger geschrieben hat. 
Ich möchte Dich jetzt fragen. Dich verbindet eine jahrzehntelange Freundschaft mit Imma von Bodmershof. Wie ist diese Freundschaft entstanden und was hat Dich mit Imma von Bodmershof verbunden?

Ch. W. – W.: Ich habe Imma von Bodmershof kennengelernt durch einen Kollegen aus dem Waldviertel nach unserer Rückkehr aus Südamerika. Das war im Jahre 1955. Wir haben sofort beide gespürt, dass uns dieselben Dinge wichtig sind.

I.: Ja, hast Du besondere Bücher, die Du gerne magst? Welche sind Deine Lieblingsbücher von Imma von Bodmershof?

Ch. W. – W.: Sieben Handvoll Salz, Die Rosse des Urban Roithner, Das verlorene Meer, auch die Gedichte.

I.: Die Haikus.

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Du hast ja selber auch Haikus geschrieben und Du hast mir einmal erzählt, dass Du die Haikus schon seit Deiner Kindheit …

Ch. W. – W.: Ja, als ich ein junges Mädchen war, hab‘ ich sie durch die Tieck-Bücher kennengelernt. Die waren auch sehr schön illustriert mit japanischen Farbholzschnitten. Und ich habe mir sofort gedacht, das ist eine Art, Gedichte zu schreiben, vollkommen, also wie absichtslos. Gerafft, konzentriert und ohne Pathos. Ganz ruhige, stille Gedichte, hinter denen ein tieferer Sinn steckt und die gleichzeitig auch durch eine Natur- schilderung … das andere, das dahintersteckt, spüren lassen. Und wir haben uns darüber unterhalten, die Imma und ich. Ich habe immer das Gefühl, man darf eigentlich keine Haikus schreiben als Europäer. Das gehört den Japanern, war immer meine Vorstellung. Aber die Imma hat gefunden, man kann. Sie hat sie viel später kennengelernt als ich, die Haikus, und war sofort, so wie ich damals, beglückt davon und hat gesagt, das ist die Form, in der ich meine Gedichte schreiben möchte. Und hat einfach Haikus geschrieben und mit großem Erfolg veröffentlicht. Die sind sogar ins Japanische übersetzt worden. Ich weiß, dass ein japanischer Literaturprofessor sie öfters besucht hat und dass sie sich sehr gut mit ihm verstanden hat. Sie hat, auch genauso wie ich, ein Interesse gehabt für den Zen-Buddhismus und hat darüber gelesen, wie ich auch.

I.: Ich erinnere mich auch an Gespräche auf Schloss Raspach über dieses Thema. Ich weiß nicht mehr, wer sonst noch daran teilgenommen hat, aber auf jeden Fall lebte damals ihr Mann noch, der ja auch geschrieben hat.

Ch. W. – W.: Ja, er hat ein Buch geschrieben: Geistige Versenkung. Er war ein hochgebildeter Mann, der sich sein Leben lang mit vergleichender Religionswissenschaft und Philosophie befasst hat. Gebiete, die uns von jeher interessieren. Er hat selbst auch einen sehr schönen Stil geschrieben und gesprochen und da gab es sehr interessante Gespräche. Wir waren uns eigentlich alle vier einig, Imma und Willy und mein Mann und ich, dass das Transzendente nicht mit dem Verstand zu erfassen ist, das kann man nur versuchen anzupeilen, man kann es mit Worten nicht fassen, da reicht einfach unser Verstand nicht aus. Die Zen- Buddhisten haben ja einen Begriff für dieses intuitive Erfassen, der heißt Sartori, da ist ein Moment, ein Augenblick, wo man das Gefühl hat, man begreift das Ganze und man ist im Einklang mit der Schöpfung, mit dem Kosmos, aber das ist ein Gefühl, das nur den Bruchteil einer Sekunde dauert und das eben nicht zu fassen ist und nicht in Worten auszudrücken. Es reicht einfach der menschliche Verstand nicht aus dafür. Aber diese Gedanken finden wir ja überall auf der Welt, auch bei Goethe z.B. im ersten Band des Eckermann Seite 438.

I.: Hast Du Dich mit Imma auch über Malerei unterhalten oder?

Ch. W. – W.: Eigentlich nicht. Sie hatte viel Verständnis und Ein- fühlungsvermögen und sie hatte eine ähnliche Einstellung zur Malerei wie ich und ihr waren auch dieselben Künstler wichtig. Aber wir haben kaum darüber gesprochen und mehr über ihr Gebiet, über Literatur, über Philosophie … Aber sie hat sich doch sehr für meine Bilder interessiert, sie haben ihr gefallen.

I.: Man kann also sagen, dass sie eine der wichtigsten Personen in Deinem Leben war.

Ch. W. – W.: Ja. Weil ich hab‘ sie absolut als einen verwandten Menschen empfunden.

I.: Etwas ganz anderes. Du hast früher einmal in vier verschiedenen Wiener Galerien ausgestellt. Warum wird nun die erste Station Deiner Ausstellung nicht in Wien sein, sondern in der Kunsthalle Worpswede? Aus welchen Gründen ziehst Du es vor, in Deutschland anzufangen? Soweit ich weiß, existieren ja Absprachen mit anderen Institutionen, in Melk und im Niederösterreichischen Landesmuseum in Wien.

Ch. W. – W.: Die Abmachung mit Worpswede war ja früher und dann sind die anderen an mich herangetreten. Die wollten mich eigentlich gleich ausstellen, aber ich hab‘ gesagt, jetzt hab‘ ich das einmal abgemacht, jetzt mach‘ ich die anderen Ausstellungen hinterher.

I.: Eine andere Frage: Warum willst Du in dem Katalog, der zurzeit steht, wenig von persönlichen Dingen drinhaben, warum sollen da nur ganz kurz Daten aufgeführt werden und warum willst Du keine persönlichen Dinge erwähnt haben?

Ch. W. – W.: Das Persönliche ist doch nicht so wichtig.

I.: Und doch möchtest Du gerne, dass Prof. Busch das Vorwort schreibt.

Ch. W. – W.: Das möchte ich sehr gerne. Das ist mein ausgesprochener Wunsch.

I.: Kommt das daher, weil Du Bücher von Dr. Busch gelesen hast, die Dir gefallen haben?

Ch. W. – W.: Ja, die mir gefallen haben.

I.: Zum Beispiel?

Ch. W. – W.: Dieses Buch über Paula Modersohn – Becker. Es ist so wichtig, dass Dr. Busch die Briefe und Tagebücher neu heraus- gebracht hat in einer erweiterten Ausgabe. Sehr begeistert bin ich von dem Vorwort. Ich habe nämlich die Gallwitz-Ausgabe ihrer „Briefe und Tagebuchblätter“ gekannt. Die haben mir inhaltlich sehr gefallen, weil ich gesehen habe, dahinter steckt ein ehrlicher, aufrichtiger Mensch, der mit großem Ernst arbeitet. Dem seine Arbeit alles bedeutet. Dann auch, weil ihr die Menschen wichtig sind, weil sie die Menschen oft in Einheit mit der Natur darstellt, was ich richtig und schön finde. Aber was mich manchmal gestört hat, war die Ausdrucksweise. Die ist wohl sehr zeitgebunden und familiengebunden. Dr. Busch hat das sehr schön zurechtgerückt in seinem Buch auf Seite 11 und 12.

I.: Wenn man Deine Bilder betrachtet, fällt auf, dass im Verhältnis das menschliche Gesicht dominiert. Weniger die Landschaft, weniger Gruppen.

Ch. W. – W.: Meinst Du? Es ist halt das, ich habe immer das gemalt, was mich irgendwie bewegt und angerührt hat. Was irgendwie in mir zum Klingen, zum Schwingen gebracht hat. Manchmal war natürlich auch , wie in Paris oder auf der Akademie, überhaupt ein gewisser Zwang da, dass eben das Modell da war, aber ich habe das Glück gehabt, dass immer Menschen dabei waren, die mich angesprochen haben, die mir interessant waren.

I.: Ich hab‘ diesen Eindruck, dass Dich besonders das Gesicht oder der Ausdruck interessiert hat und dann auch der Körper, die Haut.

Ch. W. – W.: Das ist, wie soll ich das ausdrücken, das Lebendige. Ich hab‘ das schon mal gesagt. Dieses Schimmernde, das hat mich interessiert. Aber das kam von selbst, bei der Arbeit.

I.: Es gibt wenige Landschaften jetzt bei Deinen Bildern. Sind die Landschaften verloren gegangen oder hast Du grundsätzlich weniger Interesse für Landschaften?

Ch. W. – W.: Das muss nur etwas sein, was mich bewegt, irgendetwas, die Farbe des Himmels oder wie der Himmel zu den Bäumen steht oder ein bestimmter Ausdruck, der auch in der Landschaft liegt. Und es sind ja auch viele Bilder verloren gegangen. Angefangen, ich kann das gar nicht so aufzählen, in Paris, wo ich die Bilder in der Galerie gelassen habe und habe mich nie darum gekümmert, ich war viel zu beschäftigt mit anderen Dingen, als dass ich dafür Zeit gehabt hätte. Ich hab‘ dann ziemlich viel verkauft in Hamburg auch, bei den verschiedenen Ausstellungen. Ich weiß nicht einmal an wen, weil das der Kunsthändler ja gemacht hat. Dann hab‘ ich keine Ahnung, wo die geblieben sind, die Bilder. Später dann in Wien auch, wo eben auch Sachen verkauft wurden, wo ich nicht weiß, an wen und wohin. Dann, bevor wir nach Argentinien ausgewandert sind, nach dem Krieg, waren ja auch in verschiedenen Galerien Bilder von mir, um die ich mich dann auch nicht mehr gekümmert habe. Als wir dann wieder zurück- gekommen sind, waren die Sorgen so groß, dass ich gar nicht mehr daran gedacht habe. Spät, vor ein paar Jahren, hab‘ ich’s dann versucht, aber die beiden Galerien im I. Bezirk, eine in der Kärntnerstraße, eine, Delarve, in der Krugerstraße, gab’s nicht mehr.

I.: Es gab damals existenzielle Probleme?

Ch. W. – W.: Sehr. Das gab’s eigentlich von Anfang an, seit ich geheiratet habe. Das waren schwere Zeiten und auch für uns sehr schwer. Darüber möchte ich gar nicht sprechen.

I.: Aber Du hast immer Kraft zum Malen gehabt?

Ch. W. – W.: Ja. Ich hab‘ mir immer die Zeit dafür genommen. Es war wirklich sehr, sehr schwer, aber trotzdem. Es wird immer gesagt, das geht nicht, wenn eine Frau verheiratet ist und noch dazu, so wie ich, fünf Kinder hat, kann man das nicht. Aber ich glaube, dass man es doch kann und dass man eben andere Erfahrungen hat als ein Mann. Diese Erfahrungen fließen dann ein in die Arbeit. Man braucht große Konzentrationsfähigkeit. Es gibt die vielen alltäglichen Dinge, die man tun muss und die so niederdrückend sind. Es geht einfach manchmal an die Grenzen der gesundheitlichen Belastbarkeit.

I.: Und doch kann die Frau gleichzeitig auch noch schöpferisch und künstlerisch arbeiten.

Ch. W. – W.: Ja. Es hat immer Beispiele dafür gegeben in der Geschichte der Malerei, aber es wurde wenig darüber gesprochen und geschrieben. Zum Beispiel gab es einige Italienerinnen, es gab die Angelika Kauffmann, die übrigens sehr geschätzt und anerkannt wurde, auch von Goethe, mit dem sie befreundet war. Und dann, wenn wir in die Neuzeit gehen, war da die Käthe Kollwitz, die ja auch verheiratet war und Kinder hatte. Und die Modersohn – Becker. Eine Frau hat Möglichkeiten, andere als ein Mann, aber sie hat es viel schwerer. Eine Frau kann niemals sagen: was schert mich Weib, was schert mich Kind, lasst sie betteln geh’n, wenn sie hungrig sind. Das geht nicht. Aber gerade darum kann eine Frau doch auch schöpferisch sein, gerade weil sie andere essentielle Dinge auch tut, tun muss. Aber deshalb sollte sie doch nicht abgewertet werden. Beruf, ja, aber von der Frau als Mutter will man nicht mehr hören. Aber wenn das aufhört, bedeutet das das Ende, das darf man nicht vergessen. Es sind Dinge, über die man jetzt nicht sprechen will.

I.: Nein, das ist ein Thema, das nicht so gesehen werden will.

Ch. W. – W.: Es hat in der Geschichte immer Frauen gegeben, die außer ihrer Arbeit als Frau und Mutter noch Gelegenheit gefunden haben, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, da braucht man nur an Goethes Zeiten zu denken, da hat die Frau doch künstlerisch und geistig auch eine Rolle gespielt, allerdings gab es damals noch Hausgehilfinnen.

I.: Kann man sagen, dass Dir die Malerei doch genauso wichtig gewesen ist wie die Familie, die Kinder?

Ch. W. – W.: Das finde ich nicht richtig, dass man das abwägt. Die Malerei war mir immer sehr wichtig, sogar so wichtig, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, zu heiraten und Kinder zu bekommen, weil ich gefürchtet habe, das lenkt mich ab davon.

I.: Und aus welchem Grund, hast Du dann doch geheiratet?

Ch. W. – W.: Weil ich mich sehr gut mit meinem Mann verstanden habe und weil ich mir gedacht habe, es müsste doch gehen. Ich möchte beides haben.

I.: Und Du hast beides gehabt. Bist nach wie vor glücklich verheiratet.

Ch. W. – W.: Ja. Aber natürlich, das hört nie auf, die Beschäftigung mit den Kindern und dann wieder mit den Enkelkindern, es nimmt nie ein Ende, bis zum Tod wahrscheinlich.

I.: Aber Du hast auch empfunden, dass es eine Anregung ist, dass es Neues an Dich heranträgt, auch die Enkelkinder.

Ch. W. – W.: Natürlich. Wenn man so ein Kind wieder heranwachsen sieht und sieht, wie es sich entwickelt, wie dann etwas aufleuchtet in den Augen und das Verständnis kommt, das ist etwas sehr Schönes.

I.: Aus welchem Grund wird das Deiner Meinung nach heute etwas abgewertet? Das Kinderaufziehen, Muttersein.

Ch. W. – W.: Ja, warum, wo liegen da die Wurzeln? Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil so viel von Überbevölkerung geredet wird. Dabei ist in Europa, Nordamerika, Russland, Australien etc. keine Überbevölkerung, die ist in der sogenannten dritten Welt. Und wenn wir bremsen, so vermehren die sich explosionsartig weiter. Unsere Beschränkung nützt da nichts. Merkwürdig, bei den Tieren scheint die Frage gelöst zu sein: jeder Distrikt hat seine Population, die er ernähren kann, das pendelt sich ein.

Ein weiterer Grund scheint zu sein, dass die meisten Menschen, bei uns jedenfalls, in den sogenannten „zivilisierten“ Ländern, unsere Welt schrecklich finden und es daher viele für verantwortungslos halten, Kinder in diese Welt zu setzen. Wir werden ja auch täglich mit Scheußlichkeiten gefüttert durch die Massenmedien. Das Schöne, das Gute, das ja gleichzeitig auch existiert, geschieht, wird nicht erwähnt, man scheint es für langweilig zu halten, nicht interessant, nicht sensationell. Ein falsches Weltbild entsteht. Kinder – man findet sie kosten Zeit, Arbeit, Geld und Freiheit, man müsste auf zu viel verzichten. Die Zeit ist so voll Zerfahrenheit, voll Hast, voll Unruhe und Streben nach Wohlleben. Viel trägt dazu natürlich bei auch die Technik, die mir z.B. etwas ganz Fremdes ist, aber man kann sie natürlich nicht zurückdrehen, die Entwicklung. Es sind dem Menschen so viele unwesentliche Dinge wichtiger und vor allem finde ich entsetzlich, also es gehört vielleicht nicht hieher, aber dieser Kult, der mit Autos getrieben wird und dann die gedankenlose Benützung der Massenmedien, dann der Verlust der Gespräche. Die Menschen sprechen zu wenig miteinander, und dann haben sie diese abgegriffenen Redensarten, die kommen mir vor wie Münzen, die durch den häufigen Gebrauch eben abgegriffen, abgeschliffen, abgenützt werden, wo man … das Ursprüngliche überhaupt nicht mehr erkennen kann. Der Sprechende denkt nicht, der Zuhörende auch nicht und antwortet mit gleicher Münze. Der Sinn geht verloren, verwischt sich. Und es gibt so gewisse geprägte Sätze, ich möchte da nicht ins Einzelne gehen, die einfach hingeworfen werden und oft ist die Antwort auch schon vorgefertigt. Die Menschen machen sich nicht mehr die Mühe nachzudenken oder auch überhaupt auf den anderen einzugehen. Und der Einzelne – je mehr Menschen es werden, desto isolierter ist der Einzelne und kann nicht die Verbindung finden zu seinem Nächsten. Ich habe immer das Gefühl, ein Bild drängt sich mir auf, dass der Mensch in seinem Wesen eingesperrt ist wie der Affe im Käfig. Er kann versuchen, die Hand durch die Gitterstäbe zu stecken, kann rütteln an den Gitterstäben, aber er kann nicht heraus. Und ich find‘, die allgemeine Verständnislosigkeit ist erschreckend.

I.: Ist das nicht ein sehr negatives Bild eigentlich?

Ch. W. – W.: Vielleicht … aber manche Menschen sind ja gerne allein, wollen gar nicht die unmittelbare Nähe. Aber es ist doch so. Das kann man doch nicht leugnen, dass die Menschen und nicht nur in der Großstadt, heute besonders einsam und isoliert sind. Davon wird ja auch gesprochen. Man denkt nur nicht an die Ursachen. Und in der Literatur werden die Neurosen vermarktet.

I.: Eine andere Frage. Warum, ich hab‘ festgestellt, dass in den Bildern Technik, wie Du eben ja gesagt hast ist Dir Technik ganz fremd, so gut wie gar nicht vorkommt. Ich glaube, ich kenne kein einziges Bild, wo irgendein technischer Gegenstand vorkommt, während bei manchen Malern die Technik ganz und gar im Vordergrund steht und, im Gegenteil, die Menschen gar keine Rolle spielen.

Ch. W. – W.: Ja. Die lassen sich vielleicht zu sehr gefangen nehmen von dem, was in der Zeit liegt, nehmen die Technik zu wichtig. Dabei haben die Menschen die Technik einfach noch nicht „verkraftet“, wobei ich bewusst diesen neuen Vulgärausdruck verwende, weil er mir in diesem Fall sehr treffend erscheint. Wir stehen ja erst am Anfang, wir sind noch nicht einmal im Mittelalter der modernen Technik. Wir müssen erst lernen, mit ihr umzugehen, uns ihrer zu bedienen, nicht zur gegenseitigen Vernichtung, sondern für ein würdigeres Leben, in dem auch die Kunst einen Platz hat. Ich habe überhaupt das Gefühl, dass die Kunst wenig Rolle mehr spielt in dem Leben der Menschen heutzutage. Wenn ich mich jetzt umschaue und dann überlege, wie das früher war, da haben sich die Menschen doch viel mehr mit Kunst beschäftigt, haben Bücher über Kunst gelesen, sind in Ausstellungen gegangen, haben darüber gesprochen, haben sogar gesammelt. Aber ich muss sagen, ich kenne kaum Menschen, die das tun, auch wenn sie dazu in der Lage wären.

I.: Ja, das liegt aber dann vielleicht an Deiner Umgebung, denn ich kenne eine ganze Menge Menschen, die Bilder kaufen. Allerdings ist das dann sehr oft mit einem Sammlerhintergrund, zu wissen, was aktuell ist, was geht momentan, was – hoffentlich – bleibt.

Ch. W. – W.: Ja --- Spekulation ist dabei auch und dann ist es ja oft, ich mein‘, das sollte man fast gar nicht aussprechen, es ist oft so, dass die Kunstbegeisterung, es klingt etwas bitter vielleicht, aber es ist oft eine erweiterte Eitelkeit auch.

I.: Ja, das kann man wirklich kaum aussprechen. Es ist zwar wahr, aber … Aber auch nicht bei allen Menschen.

Ch. W. – W.: Nein. Ich hab‘ immer wieder Menschen getroffen, eben wie die Imma, wie Tilly Klopfer und andere, deren Liebe zur Kunst ganz echt und ernst war.

I.: Nun ist das allerdings ein Ausspruch, der hätte auch von Thomas Bernhard jetzt sein können, weil wir gerade von ihm sprechen die ganze Zeit, nicht. Der den Kunstbetrieb in Wien und überhaupt in Österreich so geißelt. Das hätte er auch sagen können.

Ch. W. – W.: Naja, aber er macht das dann dadurch wieder gut, dass er sagt, er hasst, aber er liebt auch, damit beschwichtigt er wieder natürlich. Publikumsbeschimpfung hat ja der Handke auch schon gemacht. Für mich ist wesentlich, dass ein Künstler ehrlich ist, ehrlich wie die Modersohn – Becker. Die empfinde ich als einen sehr aufrechten, ehrlichen, ernsten Menschen oder auch die …

I.: Das ist natürlich heute schwierig, denn durch die Galerien und das Kommerzielle, das eine ganz starke Macht ausübt …

Ch. W. – W.: Ja eben. Das kann ich jetzt sagen, nachdem ich das so lange mitmache, das Leben sozusagen, dass sich das sehr gewandelt hat. Dass irgendwie der Kommerz sich der Sache bemächtigt hat. Gut, es hat schon angefangen bei Picasso, der seinen Kunsthändler gehabt hat, der die Bilder mal in diese mal in jene Hauptstadt geschickt hat, gewartet hat, werden die jetzt verkauft und dann wurden die ausgetauscht, das hat damals schon angefangen, er hat sich zwar selber nicht vermarktet, aber er hat das seinem Kunsthändler überlassen. Es ist Geschäft geworden.

I.: Und für die Künstler scheint es sehr schwierig zu sein, wenn sie sozusagen „in“ sein wollen, es wird ja immer etwas Neues von ihnen erwartet.

Ch. W. – W.: Ja, ich kenne etliche Maler, ich will auch keine Namen nennen, es ist unnötig. Aber ich denke da speziell an einen Kollegen, der jede Moderichtung mitgemacht hat.

I.: Hat er Erfolg damit gehabt?

Ch. W. – W.: Bescheidenen Erfolg.

I.: Meinst Du, dass, wenn er das nicht gemacht hätte, er mehr Erfolg gehabt hätte?

Ch. W. – W.: Das kann ich gar nicht sagen.

I.: Aus welchem Grund? Du hast die Modeströmungen nicht mitgemacht, ganz bewusst nicht oder hat es sich so nicht ergeben?

Ch. W. – W.: Ich wollte gar nicht. Ich habe mir gedacht, ich will das malen, was mir wichtig ist und was mich bewegt und nicht nur weil das jetzt „in“ ist, das mitmachen, nein. Das war nie eine Frage für mich. Ich finde, ein Künstler muss auch Substanz haben. Dann ist wieder das andere Phänomen, das ist Picasso, den ich ja großartig finde. Ja, Picasso hatte ein Gespür für die Zeit. Alles hat er aufgenommen, geschluckt, verarbeitet. Er spiegelt unser Jahrhundert wieder, von Anfang an. Geboren ist er 1886, „fin de siècle“, noch am Anfang der „belle époque“, mit ihrer Dekadenz, ihrer Lebensfreude, ihrem unermesslichen Reichtum, ihrer Genusssucht, ihrer Verfeinerung, ihrem Kunst- sinn, ihrem Mäzenatentum, natürlich all‘ das nur in den oberen Schichten. Darunter gärte es. Man rechnet die belle époque von 1880 – 1914.Vielfältig waren die Anregungen auch der Künstler untereinander. Picasso hat alles wiedergespiegelt, auch den Zerfall, die Zertrümmerung, die Auflösung unserer Welt. Er zerlegt, er baut nicht wieder auf. Ich stehe nicht allein mit meiner Ansicht, dass er nicht am Anfang steht einer neuen Welt, sondern am Ende einer alten. Wenn man nur Fotografien von ihm ansieht: seine großen, noch im Alter klaren, glühenden  Augen, die alles verschlingen. Da gäbe es noch viel zu sagen! Er selbst hat einmal gesagt: „Ich entwickle mich nicht, ich bin!“ Manches mag ich gar nicht.

I.: Manches magst Du gar nicht.

Ch. W. – W.: Ja. Aber er ist sicher ein ganz großartiger Maler. Voll Phantasie, offen für jede Anregung, unerhört fruchtbar. Er war rücksichtslos, er konnte sich das leisten.

I.: … er konnte sich das ruhig leisten?

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Weil er so talentiert war?

Ch. W. – W.: Ja, weil er genial war und unermüdlich. Übrigens der typische „homo ludens“. Manchmal habe ich so das Gefühl gehabt, der war dann überdrüssig. Es gibt von ihm ein Selbst- portrait, da ist er 16 Jahre alt, das ist ganz ausgezeichnet. Ich kann mir vorstellen, dass dann so jemand einfach müde davon ist und es dann satt hat und ganz was anderes machen möchte. Und dann wurden ja damals in der Zeit die Malerei und Plastik der sogenannten Primitiven bekannt, z.B. die afrikanischen Masken, die Südseemasken etc., die ja unerhört dicht sind im Ausdruck und faszinierend, und davon hat er sich anregen lassen. Nicht nur er, sondern andere auch. Aber mir sind, wenn ich diese Kunst- richtung anschaue, doch die Originale lieber als das Nach- empfundene.

I.: Du selbst hast Dich nicht von Masken anregen lassen und hast nicht in dieser Hinsicht Versuche gemacht?

Ch. W. – W.: Nein. Aber ich habe mir sehr gerne die Ausstellungen angesehen, die Völkerkundemuseen. Da war ungefähr vor einem Jahr eine sehr interessante Ausstellung in Wien im Künstlerhaus mit Masken und Plastiken und Malerei aus der ganzen Welt. Eben ganz ursprünglich. Die waren so unerhört lebendig, die habe ich gezeichnet, aber als solche, eben als Masken und Plastiken der anderen, nicht übernommen. Interessant ist übrigens, dass die Bilder der damaligen Künstler manchmal direkt austauschbar waren. Ich kann Dir Bilder zeigen, z.B. eine Sängerin, im blauen Kleid, sich vorbeugend, die könnte von Degas sein oder von Toulouse - Lautrec, ist aber von Picasso. Da gibt es noch viele Beispiele. Sie wurden einerseits angeregt durch die Kunst der Primitiven, andererseits regten sie sich untereinander an.

I.: Die Kunst der Geisteskranken hat in der neueren Kunst ja auch einen starken Einfluss.

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Wie siehst Du das?

Ch. W. – W.: Das soll man denen überlassen. Die können es besser, weil es echt ist, nicht. Das ist ja effektiv ein Ausdruck ihrer zer- störten Psyche. Aber ich finde es nicht richtig, wenn einer, der eben nicht so irre ist, wie er gerne sein möchte, das dann nach- zumachen versucht.

I.: ... Rainer, nicht?

Ch. W. – W.: Zum Beispiel.

I.: Und der Rainer ist gar nicht so irr, wie er gerne sein möchte.

Ch. W. – W.: Aber der Dr. Br. würde es sicher nicht gerne haben, dass man ihn auf diesen Ausspruch festnagelt. Es ist immer aus zweiter Hand, so etwas, finde ich. Sie ist sehr interessant, die Malerei der Geisteskranken, aber sie ist ihre Sache. I.: Aber sowas kann man durchaus doch als Anregung aufnehmen, aufgreifen und variieren als Thema?

Ch. W. – W.: Ich bleibe dabei, dass das Original interessanter ist als das Nachempfundene. Es ist eine Sache für sich. Es ist überhaupt merkwürdig. Der Kunstbegriff hat sich gewandelt. Also wenn Du mich fragst, eine Antwort darauf zu geben, was Kunst ist, das kann niemand. Es hat so viele Begriffsbestimmungen gegeben, aber keine ist zutreffend. Jeder hat vielleicht ein bisschen recht, aber niemand ganz. Goethe hat gesagt: „Kunst ist ein Stück Natur, gesehen durch ein Temperament“.

I.: Ich hab‘ unlängst in einer Fernsehsendung über moderne Kunst eine Definition gehört, die aber bewusst provokant formuliert war. Kunst ist, wenn einer sagt es ist Kunst und ein anderer glaubt’s. Das wurde so in den Raum gestellt.

Ch. W. – W.: Zynisch ist das. Aber es hat für die heutige Zeit wahr- scheinlich eine gewisse Berechtigung.

I.: In dieser schnelllebigen Zeit sind die Menschen unsicher.

Ch. W. – W.: Ja, die Mode wechselt so schnell. Und dann wird etwas hochgespielt und da sind die internationalen Kunsthändler, die den Markt bestimmen. Soweit ich orientiert bin, sitzen die wich- tigsten in New York. Ob das stimmt, weiß ich nicht.

I.: Es ist aber so, dass ich glaube, dass ein wirkliches Talent sich auch in dieser Zeit, in dieser etwas wirren und schnelllebigen Zeit mit den wechselnden Moden, auch da setzt sich ein wirklich authentischer Künstler durch. Er kann vielleicht Moden mitmachen, aber er wird trotzdem irgendwie seine Eigenheit noch spürbar machen können. Man merkt das schon, man merkt, dass da viele Mitläufer sind, aber einige wenige, die kristallisieren sich auch heute heraus. Nicht? Bist Du nicht auch dieser Ansicht?

Ch. W. – W.: Das kann man erst später sehen, wahrscheinlich. Nachdem wir alle tot sind, wird man sehen, was Bestand hat. Man ist ja zu sehr befangen auch in der Zeit und in den Kriterien, die die Zeit uns setzt.

I.: Welchen von den lebenden Künstlern schätzt Du denn?

Ch. W. – W.: Mir fällt da auf Anhieb Kokoschka ein, aber Kokoschka ist ja schon tot. Also der ist ein ganz großartiger genialer Maler. das kann man jetzt schon sagen, der bleibt.

I.: Aber zum Beispiel seine Bilder der fünfziger Jahre?

Ch. W. – W.: Ja, ab etwa 1952, da wird’s problematisch. Was dann kommt, das liegt mir gar nicht. Zum Beispiel sein Herodot. Am Anfang der sechziger Jahre sieht er aus wie ein Idiot. Überhaupt die späten Sachen, wo er Motive aus der Antike sehr verfremdet und bewusst, ganz bewusst verzerrt, also nicht diese sogenannten „gaucheries volontaires“ macht, wie die Franzosen sagen, also die absichtlichen, frei übersetzt heißt das die „absichtlichen Linkischheiten“, man kann das schwer in gutes Deutsch bringen. So geht das nicht, sondern die müssen ja einen Sinn haben, wenn man das macht: etwas Bestimmtes übertreiben, die Aufmerksam- keit auf etwas hinlenken, wie soll ich das ausdrücken. Sie sind natürlich absichtlich, diese Gaucheries, die er macht, aber eben mit der Absicht, linkisch zu sein, modern zu sein, es gelingt ihm nicht, etwas damit auszudrücken. Die müssen doch einen Sinn haben, wenn man sie macht und sich von selbst ergeben.

Das Triptychon 1954, die Schlacht bei den Thermopylen, mag ich gar nicht, und wie gesagt, die späten Bilder, wie er die antiken Heroen, die Götter, darstellt, die sind unnötig verzerrt. Das ist mir zu absichtlich. Er hat darunter gelitten, das weiß ich, dass man gefunden hat, er ist passé. Das hat ihm nicht gefallen. Er war immer sehr abhängig von äußerer Anerkennung. Er war da auch sehr verwöhnt, von Anfang an.

Meine Schwiegermutter, die auch Malerin war, hat gleichzeitig mit ihm an der Wiener Kunstgewerbeschule studiert und hat mir einiges von ihm erzählt. Ich habe seine Autobiographie gelesen, erst jetzt. Sie bestätigt mir, was ich aus seinen Bildern, von denen ich viele kenne, schon weiß: ein genialer Mensch, empfindsam, verletzlich, leidenschaftlich, heftig, nervös, offen für die Strömungen und Schwankungen der Zeit, empfindlich reagierend wie ein Instrument, wie ein Seismograph etwa. Dabei war er ein naiver Mensch, fast kindlich. Unmittelbar, spontan, schnell, egozentrisch. Die Portraits, Tierbilder, Stillleben, Landschaften, die er von etwa 1908 bis 1952 gemacht hat, sind grandios. Die Städtebilder sind für mein Gefühl etwas zu routiniert, sie gleichen einander zu sehr, aber welches Können! Virtuos die „Handschrift“, die Farbgebung, man glaubt an eine direkte Verbindung von Auge zu Hand. Wie er die Menschen erfasst, mit psychologischem Einfühlungsvermögen in seinen nervösen Portraits. Ich denke da an den Marabout von Temaschin, Auguste Forel, die Schauspielerinnenportraits …

I.: Wie stehst Du zu der sogenannten abstrakten Kunst oder eigentlich informell, wie man jetzt sagt.

Ch.: W. – W.: Ja informell ist ein besserer Ausdruck, denn meiner Ansicht nach gibt es gar keine abstrakte Kunst, denn wir sind Menschen, wir haben Augen zu sehen und alles, was wir wiedergeben - das ist ganz selbstverständlich -, das haben wir irgendwo gesehen. Man sieht ja auch ganz deutlich manche Abstrakte, die schauen durchs Mikroskop und bringen von dort ungewohnte Formen und Farben. Oder, wenn ich mich umschaue, ich sehe oft abstrakte Bilder. Da sind Dinge aus dem Zusammenhang genommen in einer gewissen Beleuchtung, so dass man nicht mehr erkennen kann, um was es sich handelt. Das kann auch oft sehr schön sein, aber da nun etwas hineinzulegen, womöglich etwas Metaphysisches …

I.: Das kann man doch, das ist ja nicht verboten.

Ch. W. – W.: Sicher. Das bleibt dem Einzelnen überlassen. Es kann natürlich sein, dass irgendwelche Formen, Farben in einer bestimmten Kombination den Einzelnen irgendwie anrühren und etwas in ihm direkt ansprechen … I.: Es hat Dich halt nicht so interessiert.

Ch. W. – W.: Nein, es hat mich nicht so interessiert, jeder wie er will, natürlich, je vielfältiger, desto besser eigentlich, dann ist es ja auch so, die Bilder heißen ja meistens ohne Titel und die Maler wollen ja auch dem Besucher die Interpretation selber überlassen. Ja, noch etwas, apropos abstrakt. Ich habe oft sehr schöne Dinge gesehen, wenn zum Beispiel im Winter die Pfützen gefrieren und sich da Luftblasen bilden, das sind ganz ungewöhnliche und sehr interessante Formen und Schattierungen, die die Physik hervorbringt. Farben ja weniger, aber die Formen könnte man auch benutzen, durch Farben er- gänzen, das hab‘ ich mir manchmal gedacht. Es sind auch Dinge reizvoll, die der Zufall hervorbringt. Oder, was auch faszinierend oft ist, wenn man Steine nimmt, die in einem Flussbett abge- schliffen worden sind …

I.: Ein bisschen objet trouvé, nicht? Eine Malerin, die Du ja auch kennst, die schon gestorben ist, die hat Wurzeln genommen, Baumwurzeln.

Ch.: W. – W.: Ja, das sind auch sehr interessante Formen, ja.

I.: Und hat sie dann gemalt …

Ch. W. – W.: Ja, davon kann man abstrakte Bilder machen.

I.: … die hat sie gemalt und da hat sie also schwarz, rot genommen, das sah aus wie Adern irgendwie.

Ch. W. – W.: Ja. Das ist mir immer klar gewesen, dass diese Formen in der Natur sich immer wiederholen. Genauso wie mir immer bewusst ist, im Winter, wenn ich das gesehen habe: die nackten Bäume mit dem kahlen Geäst, das sich ausbreitet, so sieht es manchmal aus wie ein Flusssystem, wo man dann weiß, unter der Erde ist noch einmal die Entsprechung, die Wurzeln, das ist ja immer so, wenn Säfte fließen, steigen, so entwickelt sich ein Adernetz, das wiederholt sich ja in der Natur … Und erinnere Dich, als wir gestern diese Steine angeschaut haben: der eine Stein, der war so interessant abgebrochen. Wenn man den vielleicht zwei Meter groß macht und auf einen Sockel stellt, ist das eine moderne Skulptur. Aber auch da finde ich immer wieder, dass das Original besser ist als die Nachahmung.

I.: Wie siehst Du dann die Photographie?

Ch. W. – W.: Es gibt sehr schöne Photographien.

I.: … aber findest Du nicht, dass die Photographie in großen Bereichen der Malerei etwas weggenommen hat?

Ch. W. – W.: Das hat sie, ja. Sie hat die Maler verunsichert, vor allen Dingen hat sie ihnen viel Freiheit genommen. Früher wurde ein Portrait, überhaupt ein Bild, gemalt ohne Anspruch. Die wollten einfach portraitieren, die waren nicht entschlossen, das soll jetzt ein Kunstwerk werden, sondern die waren viel unmittelbarer, die wollten einen Menschen malen. Dass es ein Kunstwerk geworden ist, das hat sich nebenbei ergeben, war im besten Fall das das Resultat. Aber es war nicht in erster Linie beabsichtigt. Es hat sich niemand hingestellt: ich will jetzt ein Kunstwerk schaffen.

I.: Dieser Anspruch ist heute sehr häufig. Jemand setzt sich hin sofort mit dem Anspruch: ich male jetzt ein Kunstwerk.

Ch. W. – W.: Ja, und das finde ich auch so, das ist der Verlust der

Naivität, Naivität im guten Sinne, im Goetheschen Sinne. 

I.: Ah ja, das leuchtet mir ein. Aber daher sind ja auch viele Künstler wohl abgekommen davon, einfach abzubilden, ein Bild eines Menschen zu malen und zu versuchen, einen bestimmten Ausdruck und ein bestimmtes Schicksal in dem Gesicht sich widerspiegeln zu lassen, weil sie das Gefühl haben, die Photographie, also der Photograph kann das fast besser oder authentischer.

Ch. W. – W.: Aber der fängt ja meist nur eine Facette ein. Ein Künstler sollte eigentlich das Umfassendere geben können. Es gibt bestimmt wunderschöne Photographien, also ich bin weit entfernt davon, das abzulehnen.

I.: Ich hab‘ das Gefühl, dass deshalb oft die Künstler in Abstraktes Ch. W. – W.: sich flüchten, ja.

I.: Auch in Skurilles und in Aufsehenerregendes, Abwegiges fast geflüchtet sind, um jeden Preis anderes, Neues zu machen.

Ch. W. – W.: Ja, die sind traurig, dass es die Photographie gibt, die ihnen so viel genommen hat.

I.: Weil die Photographie ja selber wieder eine

Ch. W. – W.: eine neue Art von Kunst geworden ist, ja.

I.: Das hat Dich aber nicht gereizt?

Ch. W. – W.: Nein. Ich wollte nicht noch ein Medium dazwischen- schalten.

I.: Ich hab‘ jetzt ein Buch gekauft von Jürgen Mantei, das heißt: Wenn Blicke zeugen könnten. Das ist ein Buch, das anscheinend - ich habe es ja noch nicht gelesen – das zum Thema hat, das Schauen und was das auslöst. Das Schauen, was das im Menschen auslöst, was es in ihm verändert. Ja. Das muss ja für Dich auch immer sehr wichtig gewesen sein.

Ch. W. – W.: Ja, das ist es. Von frühester Jugend an, ja.

I.: Etwas anderes. Wie findest Du Sartre?

Ch. W. – W.: Ich mag Sartre gar nicht.

I.: Warum?

Ch. W. – W.: Er ist so maßlos eitel. Das eine Buch, z.B. Die Wörter heißt es, wo er auch seine Kindheit beschreibt. Ich glaube, er hat es nie verwinden können, dass er nicht mehr der hübsche kleine, Junge war. Er war ein Wichtigtuer, hatte einen ungeheuren Geltungsdrang.

I.: Ja? War er eigentlich …

Ch. W. – W.: Ja, davon schreibt er ja, dass er ein hübscher kleiner Junge war. Später war er dann besonders hässlich.

I.: Ich hab‘ das Buch nicht gelesen.

Ch. W. – W.: Es hat mich interessiert, aber mir nicht gefallen. Genauso wenig wie die Simone de Beauvoir, die ist mir womöglich noch unerträglicher. Das ist eine absolut knöcherne, wie soll ich denn sagen, eine Frau, die selber eine Konstruktion ist, kein lebendiger Mensch mehr. Es ist auch so merkwürdig, sie hat ja ein Buch geschrieben… „La jeune fille rangée“, das heißt sozusagen ein Mädchen, das ganz solide, das ganz in Ordnung eingereiht, angepasst ist – das ist sie selbst – und das sich dann entschließt, sich zu emanzipieren, mit der gleichen verbissenen Gewissenhaftigkeit, mit der sie alles macht. Und dann schreibt sie doch von dieser Pariser Kunstszene und diesen ganzen Kaffeehäusern … In all ihren Büchern kommt kein Baum, kein Strauch vor. Das schlimmste ihrer Bücher ist „Das andere Geschlecht“, trocken, papieren, langweilig. Sie schreibt von etwas, von dem sie keine Ahnung hat, eine Spießbürgerin mit anderem Vorzeichen. Ich habe mich zwingen müssen, das Buch zu Ende zu lesen. Dann „L’Invitée“ und das Buch über ihre Mutter, nach ihrem Tod geschrieben …

I.: In dieser Zeit, 1932, 33, 34 in Paris, welche Bilder haben Dir da Eindruck gemacht?

Ch. W. – W.: Auf Anhieb fällt mir die Hl. Anna Selbtritt von Leonardo da Vinci ein. Ich finde die Hl. Anna mit ihrem Lächeln sehr viel eindrucksvoller als die Mona Lisa. Und dann fällt mir ein, die Botticelli – Madonna im Rosenhaag, wo die Rosen dunkel gegen einen Abendhimmel stehen. Und dann ein Akt von Renoir, wo das Licht durch Blätter fällt. Und dann die Nike von Samothrake. Das sind die Kunstwerke, die mir nach so langer Zeit, nach 50 Jahren, sofort einfallen.

I.: Und andere wichtige Bilder, die nun nicht gerade im Louvre hängen, sondern sonst, welche Maler bewunderst Du? … z.B. Delacroix?

Ch. W. – W. : Delacroix ist natürlich ein ganz großartiger Maler, wobei mir nicht so sehr diese gewaltigen Bilder liegen, mit den vielen Menschen und mit der Bewegung, sondern eher die Einzelmenschendarstellung, die ja wunderbar erfasst sind. Da fällt mir die Afrikanerin ein, die ich in einer Reproduktion kenne und die sich in Privatbesitz befindet. Natürlich waren mir die Impressionisten schon vorher bekannt. Das war ja eine wirkliche Revolution in der Malerei, dass sie hinausgegangen sind und unter dem wechselnden Licht gemalt haben.

I.: Das hat man doch früher auch schon gemacht.

Ch. W. – W.: Ja, aber nicht so frei.

I.: Zum Beispiel wenn ich daran denke, sogar Dürer und andere.

Ch. W. – W.: Ja, aber die haben nicht das Licht so gemalt wie die Impressionisten. Die haben das Licht, die Luft mitgemalt. Früher sind sie hängengeblieben doch noch am Gegenstand, am Menschen, an den Bäumen, an den Bergen, an den Blumen, all dem, was man anfassen kann, sozusagen. Aber bei denen ist es freier geworden, eine Einheit. Das ist das Schöne daran. Dann hat mir Eindruck gemacht, Monet, der eben ganz extrem sich befasst hat mit diesen Wirkungen des Lichts auf dem Gegen- stand, der z. B. die Kathedrale von Rouen in verschiedenen Be- leuchtungen gemalt hat, sodass es immer andere Bilder wurden. Oder diese Seerosenbilder. Das war doch revolutionär, dass jemand sich so frei gemacht hat von dem Greifbaren und alles einbezogen hat. Dann Manet, der mich auch beeindruckt hat und Renoir, wenn auch nicht alles. Die späteren Bilder sind mir etwas zu … ein bisschen an der Grenze.

I.: Weil sie etwas süßlich sind?

Ch. W. – W.: Ja, das sag‘ ich ja gerade.

I.: Und Gauguin? Manche Deiner Bilder, die in Südamerika ge- macht sind, man kann nicht sagen erinnern an Gauguin, aber …

Ch. W. – W.: Ja, das ist das Sujet natürlich, die braune Haut, und die Ähnlichkeiten, die es gibt zwischen den Indianern und den Südseeinsulanern, da ist eine gewisse physiognomische Ähn- lichkeit da, man nimmt ja an, dass sie verwandte Rassen sind. Aber es sind doch wieder ganz andere Menschen. Die Poly- nesier leben im Paradies, die Indianer in einer strengen, kargen Landschaft. Die haben eher tragische Gesichter. Ich habe immer das Gefühl gehabt bei diesen Indianern, als wenn sie … - irgendwie ist eine große Trauer in diesen Gesichtern. Wenn man denkt, was für eine Vergangenheit sie haben, was das für  blühende Reiche waren, was das für eine hohe Kultur war, ab- gesehen von den grauenhaften Menschenopfern, die ich mir überhaupt nicht erklären kann, wie solch kultivierte Menschen dazu gekommen sind. Jetzt leben sie in Argentinien, jedenfalls hauptsächlich in den Bergen, ziemlich einfach und naturnah. Sie haben Lamaherden und treiben bescheidenen Ackerbau. Sie sind tiefreligiös, katholisch. Aber ich finde, in den Gesichtern sieht man doch noch einen Abglanz von vergangener Größe und irgendwie eine Trauer über den Verlust. Das sehe ich in den Gesichtern, das prägt sich absolut aus.

I.: Aber man hat doch den Eindruck, ich hab‘ sehr wenige Menschen da kennengelernt, dass sie überhaupt nichts von ihrer Geschichte wissen.

Ch. W. – W.: Sicherlich. Aber als wenn sie das instinktiv doch noch ahnten, als wenn die Prägungen doch noch da sind, die gar nicht ins Bewusstsein dringen. Als ob sie das noch irgendwie im Blut hätten, die vergangene Größe. Sie wirken nicht primitiv. Sie wirken wie Menschen, die etwas verloren haben, dessen sie sich nicht bewusst sind.

I.: Ah ja, das drücken Deine Bilder auch aus, diese Menschen wirken ungeheuer traurig.

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Ungeheuer traurig, und dabei haben sie eine gewisse Majestät auch, etwas Hoheitsvolles.

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Was ich für einen Zufall gehalten habe.

Ch. W. – W.: Nein, nein. Das hat sich mir absolut mitgeteilt. Keine Primitivität sehe ich in den Gesichtern, gar nicht. Es ist etwas Edles darin. Aber etwas Tragisches und Bedrücktes.

I.: Hast Du Dich mit van Gogh auch beschäftigt oder …

Ch. W. – W.: Man konnte nicht an ihm vorbeigehen. Auch ein ganz Großer.

I.: Du hast ja auch ein Sonnenblumenbild gemalt.

Ch. W. – W.: Ja, aber ganz anders. Mehrere.

I.: Ja. Man sagt ja eigentlich, dass man seit van Gogh gar keine Sonnenblumenbilder mehr malen kann oder darf.

Ch. W. – W.: Ja, das war mir gleich. Ich habe sie gesehen, und ich fand sie schön, und ich hab‘ sie auf eine ganz andere Weise gesehen und gemalt. Van Gogh hat sie in der Vase und verdorrt gemalt. Ein sehr gutes Bild, aber sie waren zerzaust, ausge- trocknet und verdorrt. Mich haben sie oben lebendig im Garten fasziniert, dieses Stürzende, dieses Leuchtende, das sie haben, wie wirklich eine kleine Sonne. Und diese starken Blätter, diese starken, kräftigen Blätter, die stumpf grün sind, und, wenn die Sonne durchscheint, wieder dieses Goldgrüne haben, das fand ich sehr schön.

I.: Aber sie sind ja auch etwas verwachsen und verborgen irgend- wie, wild sehen sie aus, sie sind gar nicht nur strotzend.

Ch. W. – W.: Oh doch! Aber sie sind ja so verschieden. Die Blumen haben ja auch ihre Individualität. Ich erinnere mich gerade an eine Sonnenblume bei Imma im Garten, eine riesige Staude, übermannshoch, mit einem gebeugten Blumenhaupt sozusagen, ein verhältnismäßig kleines …, die auch eben sehr ausdrucks- voll war. Und dann haben wir bei uns im Garten solche immer wieder, die sehr, sehr leuchtend und kräftig sind. Jede einzelne Blume ist ja anders, sie hat ja ihre Individualität, auch wie jeder Baum seine Individualität hat. Mir haben auch Bäume immer sehr viel bedeutet. Ich bin ja in der Natur aufgewachsen, wohl schon in der Großstadt, aber am Rande der Großstadt, wo der Vorort in das Dörfliche übergeht. Wo man eine Stunde braucht, bis man in das Stadtzentrum kommt. Ich bin in einem wunder- baren, riesengroßen Garten aufgewachsen mit schönen, gewal- tigen , alten Bäumen und Blumen. Es hat mir immer sehr viel bedeutet. Die Bäume sind immer meine Freunde gewesen.

I.: Ich wollte Dich noch etwas über Deine Blumenbilder fragen. Die Leute werden Dich ja vielleicht mit Nolde vergleichen wollen, der ja auch sehr viele leuchtende Blumenbilder gemalt hat.

Ch. W. – W.: Ja, aber ganz anders. Er geht ja anders daran heran. Er malt ja nicht nur seine Blumen so leuchtend, sondern auch seine Menschen und Landschaften sehr, sehr leuchtend. Diese orangefarbenen Wolken und … I.: Und bei den Blumenbildern siehst Du keine Parallele?

Ch. W. – W.: Nein, ich seh‘ sie anders. Ich finde, das ist ja das Schöne, dass jeder das anders sieht. Jeder hat irgendwie recht. So ist es immer in der Malerei. Jeder hat seine persönliche Art zu sehen, jedem fällt etwas anderes auf und jeden fasziniert etwas anderes.

I:. Auf was hat das Publikum oder die Leute, die Deine Bilder gesehen haben, am meisten reagiert. Auf die Ölbilder, die Aquarelle oder die Zeichnungen?

Ch. W. – W.: Das ist nach den Menschen sehr verschieden. Es freut mich eigentlich, dass jedem etwas anderes gefällt. Manche finden die Aquarelle besonders interessant, manche wieder die Ölbilder, manche die Zeichnungen. Es ist ganz unterschiedlich.

I.: Hat es bestimmte Zeiten gegeben, wo Dir das eine wichtiger war als das andere?

Ch. W. – W.: Nein, das hab‘ ich schon mal gesagt. Ich mag nicht immer hintereinander dasselbe machen, ich mag gerne wechseln mit der Materie, mit der ich arbeite.

I.: Das ist ja heute, ich weiß jetzt nicht, Du hast mir einmal erzählt, dass das damals ziemlich neu war und dass z.B. der Hundert- wasser auch gesagt hat, damals … Ch. W. – W.: Das haben wir schon gesagt, ja,

I.: … sensationell gewesen sein. Warum meint Dr. Hilger, dass das heute anders ist. Dass die Maler mehr Aquarell machen und mit Tricks. War das damals nicht so oder …

Ch. W. – W.: Damals wurden eigentlich weniger Aquarelle gemacht. Dr. Hilger hat mir gesagt, dass es ihn stört, dass viele jetzt so mit Tricks arbeiten, mit Trocknen, mit Fön. – Also, das war mir vollkommen neu – und das findet er absolut unzulässig.

I.: Ist es denn nicht unwichtig, wie man zu einem Resultat kommt? Ist nicht das Resultat das Allerwichtigste und der Weg dahin gleichgültig?

Ch. W. – W.: Darüber habe ich mir nie den Kopf zerbrochen, das ist eine schwierige Frage, vor allen Dingen, ich müsste das sehen. Ich habe noch nie so ein Fönbild gesehen. Das kann ich mir gar nicht vorstellen, wie die das machen.

I.: Was hältst Du davon, dass manche Künstler meinen oder manche Leute meinen, dass ein Künstler heute alles machen muss, auch selbst Manager seiner Kunst sein muss und überall drin sein muss, gar nicht mehr so in der Isolation leben darf.

Ch. W. – W.: Dass die Künstler sich auch mit den allermodernsten Errungenschaften der Technik, Video usw. beschäftigen sollten.

I.: Ich denke, das lehnst Du ab.

Ch. W. – W.: Mich würde das nicht interessieren.

I.: Dich interessiert es nicht, aber Du lehnst es nicht ab?

Ch. W. – W.: Nein, das kann ich ja nicht, das soll jeder machen wie er will, wie er es interessant findet.

I.: Ist es grundsätzlich falsch, wenn man sagt, ein Künstler sollte … 
Kann man das eigentlich nicht sagen?

Ch. W. – W.: Nein. Aber auch diese ganzen Postulierungen finde ich nicht richtig. Übrigens, da fällt mir ein: eine mir bekannte Malerin hat einmal gesagt: „Seit Picasso dürfen wir alles“, und ein junger Maler, den ich kenne, sagt: „Ich hasse alle Maler“.

Natürlich hat jeder seine eigenen Vorstellungen, aber die sind ja nicht maßgeblich. Mir ist es jedenfalls fremd. Ich finde überhaupt, es ändert sich, die ganze Einstellung zur Kunst hat sich ganz und gar geändert. Das haben wir schon erwähnt, sie spielt keine solche Rolle mehr wie früher. Natürlich ist es ganz gut, dass das Pathos weg ist von der Kunst oder dass man mit der

Kunst ganz vordergründig politische Propaganda macht. 

I.: Das war bei der Entwicklung der religiösen Kunst vor allen Dingen, nicht?

Ch. W. – W.: Das ist etwas anderes. Da war es natürlich gewachsen, Ausdruck der Frömmigkeit. Zur höheren Ehre Gottes. Das waren echte Inhalte. Diese Inhalte sind weitgehend verloren gegangen.

I.: Aber schön ist es doch, dass heute so viel Verschiedenes neben- einander möglich ist.

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Das hat doch auch einen gewissen Reiz.

Ch. W. – W.: Aber es ist oft nicht mehr das, was man früher unter Malerei verstanden hat. Dafür müsste man einen neuen Namen erfinden.

I.: Was ist mit den Neuen Wilden zum Beispiel, die schwelgen ja wieder in der Farbe.

Ch. W. – W.: Ja, aber was ist mit der Form? Dem Inhalt?

I.: … dass aus diesem wilden Malen wieder eine Form entsteht. Man sieht ja Ansätze, nicht?

Ch. W. – W.: Ja, vielleicht fängt es wieder an, dass man Freude hat daran, mit den Farben umzugehen und mit dem Pinsel, dass diese Art des Malens wieder kommt. Viele haben ja gearbeitet mit Spritzpistole und so weiter. Also, dass es eine ganz glatte Fläche wurde, dass die Handschrift nicht mehr zu sehen war, wie bei der Werbung. Jetzt wird die Handschrift wieder mehr modern. Aber das ändert sich ja dauernd, ist kurzlebig.

I.: Ja, das ist sicher so, dass die Kunst, die Stilrichtungen sehr kurz- lebig sind.

Ch. W. – W.: Die Menschen sind immer novarum rerum cupidi gewesen, wie Cäsar von den alten Galliern gesagt hat. Wenn sie zu lange etwas gesehen haben, so werden sie überdrüssig und wollen wieder ganz etwas anderes haben. So wie es auch in der Mode ist, es ist in allen Dingen so, auch in der Kunst. Sie können es dann nicht mehr sehen, nicht mehr hören, es muss wieder ganz etwas anderes her. Aber es sollte ein langsamerer Prozess sein. Das Pendel schlägt zu schnell hin und her. Das schnelle Wechseln, das kann ja keine Tiefe ergeben.

I.: Was ist, das ist. Also kann man gar nicht sagen, es sollte. Das beinhaltet ja schon eine Kritik.

Ch. W. – W.: Warum nicht? Es kann doch jeder seine Meinung haben. Aber die Meinung des einzelnen ist auch gar nicht so furchtbar wichtig. Ich finde ja überhaupt, der einzelne Mensch ist einerseits ungeheuer wichtig, andererseits ganz unwichtig. Also, das sollte man nie vergessen.

I.: Wichtig in seiner Unverwechselbarkeit?

Ch. W. – W.: Ja, aber gleichzeitig ganz unwichtig, man sollte nie ver- gessen, dass man eigentlich ein Staubkorn ist.

I.: Also eine gewisse Bescheidenheit und Demut täte not.

Ch. W. – W.: Ja, das sind ganz unmoderne Ausdrücke, die kann man fast nicht mehr verwenden, sie haben heute immer einen Beigeschmack von Schwäche und Unzulänglichkeit. Es stimmt aber nicht. Man müsste fast neue Ausdrücke dafür finden.

I.: In der heutigen Kunst ist es sicher so, dass der Maler fast mehr im Mittelpunkt steht als seine Bilder, die Signierung z.B. eines fast leeren Bildes oder eines Notizblattes das ist schon etwas ganz Wichtiges heute. Schon allein wenn der Name da unten steht, wird das Werk eigentlich schon gut geheißen.

Ch. W. – W.: Ja. Das ist schon sehr verschmockt. Aber die aller- meisten Menschen sind unsicher in ihrem Urteil. Da ist Ihnen der Name eine Hilfe.

I.: Es hat schon früher Zeiten gegeben, da stand das Bild im Vordergrund und dann kam erst der Name.

Ch. W. – W.: Ja, ich finde, so sollte es weiter sein. Es sollte das Bild für sich sprechen und der Name sollte erst in zweiter Linie interessant sein. Das Werk sollte für sich sprechen. Mir ist es immer so gegangen, mein ganzes Leben lang, wenn ich in Ausstellungen gegangen bin, ich hab‘ erst mal mir das ange- schaut, was mich fasziniert hat und wenn ich das Geld gehabt hätte, hätte ich mir oft Bilder gekauft, einfach nur so, weil sie mir gefallen haben, ganz egal, von wem das ist. Ich würde auch heutzutage nie ein Bild nach dem Namen kaufen, sondern nur, wenn es mich anspricht.

I.: Ich hab‘ jetzt gerade ein Bild von Odilon Redon gesehen, jetzt in Bremen, eine schöne Ausstellung. Du hattest, glaube ich, auch von einer Ausstellung in Salzburg erzählt, nicht?

Ch. W. – W.: Ein einzelnes Bild von ihm auf einer Ausstellung, das mir sehr gut gefallen hat, das war eine Graphik, eine sehr dunkle, ein Frauenkopf. Ich kenne nur sehr wenige Bilder von ihm, ich erinnere mich nur an vier: die erwähnte Graphik, dann eine geheimnisvolle Landschaft mit einem Baum und zwei sehr symbolistische: der Zyklop und dann dieser Kopf als Sumpf- blume, die beiden mag ich gar nicht.

I.: Ja, die hab ich auch nicht so gern, wunderschön sind stets seine Blumensträuße, seine Blumenvasen.

CH. W. – W.: Schade, die kenne ich nicht. Warum eigentlich? Zufall? 
Es wird mich wohl das Symbolische, das Allegorische gestört haben, dass ich da nicht näher nachgefasst habe. Eigentlich müsste es mir trotzdem liegen, in der Art, wie er das Licht und die Farbe behandelt. Er muss Turner auch geliebt haben, das sehe ich daraus.

I.: Bei Künstlern gibt es manchmal diese Besessenheit, etwas ganz Bestimmtes zu malen. Das hast Du nicht?

Ch. W. – W.: Ich male das, was mich anrührt, was mich bewegt, was mich fesselt, was sich mir aufdrängt, ich will nicht etwas Be- stimmtes. Ich will keine gemalte Literatur machen. Das will ich nicht, das stört mich. Ich möchte ausdrücken, was man nicht mit Worten sagen kann.

I.: Es gibt doch eine ganze Menge Künstler, die sagen, sie müssen sich irgendetwas von der Seele malen oder sie machen eine ganz bestimmte Sache, die immer wiederkehrt, z.B. Antes mit seinen Kopffüßlern oder bestimmte immer wiederkehrende Motive, von denen diese Künstler ganz besessen scheinen.

Ch. W. – W.: Ja, das ist mir, die Kopffüßler z. B., eigentlich ganz un- verständlich. Außerdem finde ich es sehr langweilig, immer wieder das gleiche zu malen. Und dann diese ganz glatten Ober- flächen, die ausschauen wie mit der Spritzpistole gemacht, das ist mir etwas Fremdes, etwas mir vollkommen Fremdes. Wenn ich auf der anderen Seite Schiele nehme z.B., da ist jedes Bild fesselnd, ein ganz grandioser Zeichner. Der hat mir schon immer sehr gefallen. Als ich jung war, da hat man ihn nicht sehr geschätzt, auch Klimt war geradezu verpönt, das hat man kitschig gefunden. Jetzt auf einmal hat sich das gewandelt, jetzt findet man sie wieder schön und großartig.

I.: Das erste Schielebild hab‘ ich bei den Neubauers gesehen, das hing da, wenn man reinkam, gleich rechts.

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Wieso hatten die damals …..

Ch. W. – W.: Naja, die haben ja Geschmack und Kenntnisse, die Erika ist Kunsthistorikerin und der Erwin hat sich auch sehr dafür interessiert.

I.: Hast Du Schiele noch gekannt oder die Neubauers?

Ch. W. – W.: Nein, er ist ja schon 1918 an Grippe gestorben, da war er erst 28.

I.: Ich finde, er hat so eine interessante Perspektive in seinen Zeichnungen.

Ch. W. – W.: Ja, er beherrscht gerade diese Verkürzungen, diese Überschneidungen unglaublich gut. Das muss ihn sehr interessiert haben, also das kann ich sehr gut verstehen, das ist etwas sehr Spannendes.

I.: Auch bei ihm hat man nicht das Gefühl, dass er nach dem Publikum schielt, sondern er hat vor allem auch für sich gemalt.

Ch. W. – W.: Sicherlich war er besessen von seiner Arbeit, er war sich auch seiner immensen Begabung sicher und hat früh Anerkennung gefunden. Man weiß, dass er einen Auftraggeber für pornographische Zeichnungen hatte. Aber weil er so außergewöhnlich genial ist, in seiner Art ohnegleichen, bemerkt man das Pornographische kaum, sieht darüber hinweg. Das Merkwürdige bei ihm habe ich immer gefunden: einerseits haben seine Sachen etwas Mondänes, Raffiniertes, Exaltiertes, auf der anderen Seite aber auch etwas Proletarisches. Man kann sagen, das sind mondäne Proletarierinnen oder proletarische Mondäne, ganz merkwürdig. Und seine Körper sind oft so krank, verhungert, die Haut fast wie von Leichenflecken bedeckt. Das ist nicht schön, aber in der Zeichnung ist er großartig. Dann seine Handbewegungen, diese sehr exaltierten, gespreizten oder aufgerichteten Hände, auch diese sehr hochgezogenen Augenbrauen ganz merkwürdig affektiert, aber er ist ein ganz großer Könner.

I.: Ich wollte Dich noch mal fragen, denkst Du beim Malen an den Betrachter später, interessiert Dich überhaupt der Betrachter oder wie das Bild auf andere wirkt?

Ch. W. – W.: Ich denke nicht an den Betrachter. Ich male es einfach. Aber natürlich möchte jeder Maler auch erleben, dass er anderen etwas geben kann. Aber das ist nicht das Primäre.

I.: Du hoffst also nicht auf das Verstehen, sondern Du machst einfach das, was Du möchtest?

Ch. W. – W.: Ja, natürlich. Aber jeder möchte einen Sinn sehen in dem was er tut. Aber das ist nicht das, woran ich denke. Der Mensch interessiert mich.

I.: Kannst Du sagen, was Dich am meisten beeinflusst hat? Siehst Du irgendwelche Wurzeln, man sagt doch so gerne, beeinflusst von dem oder sich orientiert an diesem oder jenem. Oder kannst Du das nicht so sehen?

Ch. W. – W.: Wir haben das schon gestreift. Was mich am allermeisten beeindruckt hat, mir am meisten gegeben hat, das sind die Bildwerke der Künstler von Anfang der Kunstgeschichte an, durch alle Zeiten und Völker. Bildwerke, aus denen ein Ewiges mich anspricht, das allen Menschen gemeinsam ist, das sie verbindet, das sie verwandt macht, trotz aller Verschiedenheiten von Zeit und Rasse. Worte sind zu abgenützt und arm, das auszudrücken. – Es gibt sehr viele Maler, die ich sehr schätze, aber es geht mir so, dass mir nicht alles gefällt, nie alles von einem bestimmten Maler, sondern immer nur einiges. Ich bin sicher, es kann einen nur das anrühren, was auch in einem selber drinnen ist und das andere, das einem fremd ist, mag man halt nicht so.

I.: Wäre das Auge nicht sonnenhaft, die Sonne könnte es nie erblicken. Goethe. Man sieht das, was man schon in sich trägt, wie Goethe sagt.

Ch. W. – W.: Ja, das glaube ich. Und das ist in allem so: auch in Literatur, Musik, Religion, Philosophie.

I.: Also können auch Deine Bilder nur verstanden werden von Menschen, die …..

Ch. W. – W.: die ähnlich gestimmt sind, ja.

I.: Hast Du aus diesem Grund Dich nicht um Ausstellungen bemüht oder bist auf Angebote nicht eingegangen?

Ch. W. – W.: Weil mir diese Art, diese heutige Einstellung zur Kunst fremd ist. Und weil, wie ich schon gesagt habe, ich das Gefühl habe, die Menschen sind nicht so sehr interessiert, andere Dinge sind ihnen wichtiger.

I.: Und Kunst wird vermarktet, nicht?

Ch. W. – W.: Ja, darüber haben wir ja schon gesprochen.

I.: Und da müsste man sich vielleicht irgendwie modisch an irgendeiner Richtung, was eben gerade gefragt ist, orientieren.

Ch. W. – W.: Das möchte ich absolut nicht. Ich finde, ein Künstler muss ehrlich sein, ehrlich wie die Modersohn-Becker war oder wie der Werner Berg, der sich auf seinen Rutarhof in Kärnten zurückgezogen hatte, wo er vor drei Jahren, glaube ich, in seinen Siebzigerjahren gestorben ist. Ich schätze ihn sehr, seine Haltung, seine Bildinhalte, seine Farben, seine Formen. Nur seine Gesichter sind mir zu schematisch. Sein Weg ist eben nicht mein Weg. Man hat ihn einzureihen versucht, als Nachexpressionisten. Ich finde das zu oberflächlich. Er war ein Einzelgänger, zu wenig bekannt. In Bleiberg in Kärnten hängen viele seiner Bilder in einer ständigen Ausstellung in einer Galerie. Was mich heute stört an der Malerei, dass man oft die glatte Art zu malen aus der Werbung hineinnimmt in die Kunst, das stört mich. Der Andy Warhol hat damit angefangen z.B mit diesen Tomatendosen, was ich vollkommen absurd finde.

I.: Es muss vielleicht sein, denn das nimmt inzwischen einen so breiten Raum ein, dass man diesen Bereich gar nicht mehr ignorieren kann.

Ch. W. – W.: Warum denn, wir sind ja ohnehin schon überfüttert mit diesen Dingen, die kann man doch schon gar nicht mehr sehen, und das dann noch in die Kunst hineinnehmen. Ich käme doch nicht auf die Idee, mir so etwas aufzuhängen. Für mein Gefühl ist das einfach ein Gag. Man will unbedingt etwas machen, was noch nie da war, dabei finde ich, es gibt noch so viele Möglichkeiten, auch in der Malerei, Sachen zu malen, wie sie noch nie gemalt worden sind. Es ist ja auch so vielfältig, immer ist die Beleuchtung anders, wenn Du dieselbe Landschaft nimmst, zu jeder Jahreszeit, zu jeder Stunde, in jeder Minute ist sie irgendwie anders. Das sind immer wieder neue Entdeckungen, die man machen kann. Aber das tritt ja alles in den Hintergrund. Das, was früher die Inhalte der Bilder waren.

I.: Aber in unserer industriellen Gesellschaft …, wo diese Werbung eben diesen breiten Raum einnimmt und die Leute sich damit auseinandersetzen, dass ihnen jetzt eine Zahnpasta eingeredet wird, die sie ursprünglich vielleicht gar nicht wollten oder eine Kaffeesorte, die eigentlich gar nicht ihr Geschmack ist und der Mensch tatsächlich, wie ja erwiesen ist – sonst würde man diese Werbung ja gar nicht machen – , optisch so beeinflussbar ist, dass er dann tatsächlich diesen Kaffee und diese Zahnpasta kauft.

Ch. W. – W.: Das ist mir unverständlich, ich würde eher umgekehrt reagieren.

I.: Ja, aber die meisten Menschen sind nicht wie Du, sonst wäre diese Werbung ja nicht so wirksam und man würde nicht so viel dafür bezahlen. Die Menschen reagieren ja darauf und damit setzen sich dann doch diese Maler auseinander.

Ch. W. – W.: Ich kann sie nicht hindern, aber mir ist das fremd.

I.: Ich glaube, es ist irgendwo die Hilflosigkeit. Auch eine Antwort auf die Photographie, den Film und das Video, wie wir schon gesagt haben, die ihnen viel weggenommen haben, und man kann ja eine Sache ablehnen, entweder aussparen oder sie vereinnahmen. Es ist wohl der Versuch, sie zu vereinnahmen. Man kann es aber ebenso gut unterlassen, wie Du es machst, aussparen.

Ch. W. – W.: Ja, wozu das vereinnahmen? Ich sehe die Notwendigkeit gar nicht.

I.: Interessiert das niemanden, glaubst Du? Vielleicht ist das Bewältigung?

CH. W. – W.: Nein, ich meine, das ist überflüssig.

I.: „Zitieren“ wie man so sagt.

Ch. W. – W.: Ich finde das absolut unnotwendig.

I.: Es gibt ja jetzt auch Gedichte, die teilweise Schlager oder so billige Redensarten verarbeiten.

Ch. W. – W.: Wozu?

I.: Das ist neu.

Ch. W. – W.: Aber deswegen ist es durchaus nicht gut. Nicht alles was neu ist, ist gut. Ich finde das eine absolute Armseligkeit. Die Sprache verarmt ja ohnehin immer mehr.

I.: Ich habe keine Karikaturen bei Dir gesehen. Hat Dich je Karikatur interessiert?

Ch. W. – W.: Als Kind habe ich ganz gern Karikaturen gemacht, in der Schule natürlich, aber das interessiert mich eigentlich gar nicht mehr.

I.: Warum nicht?

Ch. W. – W.: Weil es zu grob ist.

I.: Aber Daumier?

Ch. W. – W.: Ja, das ist etwas anderes.

I.: Es gibt selten sehr gute Karikaturisten.

Ch. W. – W.: Ja, da gibt es sehr wenige, Thöny, Gulbransson, aber das sind Künstler.

I.: Und es gehört eben eine gewisse Bosheit auch dazu. Also Freude über die … Schwächen und Unzulänglichkeiten. Ich wollte noch einmal die Frage stellen nach wichtigen Menschen in Deinem Leben.

Ch. W. – W.: Das war meine Mutter, die eine ganz besondere Frau war. Auch künstlerisch begabt, musikalisch, dann konnte sie auch sehr gut zeichnen, las gern, war sehr interessiert und hat immer meine hartnäckigen Sinnfragen beantwortet und hat mir, das werde ich nie vergessen, ich war ungefähr fünf Jahre alt, den kategorischen Imperativ von Kant erklärt, allerdings ohne zu sagen, dass er das ist und Kant gar nicht erwähnt, aber so erklärt, dass ein Kind das verstehen konnte und einsehen, und das weiß ich noch, wie mir das ganz großen Eindruck gemacht hat. Sie hat es ziemlich schwer gehabt, sie hat die Hausarbeit gehasst, genauso wie ich, hat sie aber doch auch machen müssen und ihr Traum wäre gewesen, Astronomie zu studieren. Sie konnte nicht müde werden, den Himmel zu bewundern. Sie hätte gerne wissenschaftlich gearbeitet, aber damals war das natürlich ausgeschlossen. Dann war sie noch ein Mensch, der niemals schlecht über andere Menschen gesprochen hat, niemals. Sie hat immer versucht, alles zu verstehen oder immer das Gefühl gehabt, man hat nicht das Recht, über andere Menschen zu urteilen. Dann war sie ein Mensch, der sich selbst zurückgestellt hat und ich kann mich kaum erinnern, dass sie jemals „ich“ gesagt hätte, jedenfalls nur sehr selten. Und das Interessante ist, dass meine Großmutter genau so ein Mensch war. Nur war sie sehr, sehr schweigsam und ein sehr leiser Mensch, der auch sehr viel Sinn für Schönheit hatte. Auch menschliche Schönheit. Sie hat nicht gezeichnet, aber sie hatte sehr viel Sinn dafür.

I.: War auch etwas künstlerisch veranlagt.

Ch. W. – W.: Das nicht. Aber sie hat sich so freuen können über Schönes, über Landschaft und Bäume und Blumen und Menschen eben. Menschliche Schönheit konnte sie begeistern. Sie sagte immer, wenn sie im Zug fuhr oder in der Straßenbahn, ein schönes menschliches Gesicht könnte sie stundenlang anschauen. Aber sie hat wenig von sich gesprochen, auch sich selbst ganz zurückgestellt. Ein sehr guter Mensch, wie meine Mutter eben auch.

I.: So etwas ähnliches hast Du ja auch über Imma von Bodmershof

gesagt. 

Ch. W. – W.: Ja, die war auch so ein Mensch. Und das finde ich so schön, wenn Menschen Güte haben, das ist ein Wort, das ja heute ganz unmodern ist, Güte und Verständnis, statt sich anzumaßen, über alles zu urteilen und meistens negativ. Sich selbst zurücknehmen und nicht so wie andere sagen: aber ich sage, ich finde das und ich, ich, das spürt man bei diesen Menschen gar nicht und das hat mir gefallen.

I.: Und doch hat die Imma von Bodmershof einen großen Erfolg gehabt, sie hat ja auch den großen österreichischen Staatspreis bekommen.

Ch. W. – W.: Ja, den hat sie bekommen und viele andere auch. Aber sie ging kaum an die Öffentlichkeit, nur bei Lesungen. Sie lebte zurückgezogen in einer ihr adäquaten Umgebung, fast immer auf ihrem wunderschönen Schloss, das auf einer Anhöhe steht, umgeben von alten Bäumen, in denen der Wind saust oder seltener in ihrer Wiener Wohnung beim Oberen Belvedere.

I.: Imma – eine sehr starke Persönlichkeit, die immer ganz ruhig war.

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Und andere hat reden lassen.

Ch. W. – W.: Ja. Und selber auch gesprochen hat. Sie war kein schweigsamer Mensch, das kann man nicht sagen, aber ein

Mensch, in dessen Gegenwart man sich wohl gefühlt hat. Übrigens hat die Imma Rilke noch gekannt, er hat im Hause ihrer Schwiegereltern in München verkehrt, Imma war als junges Mädchen mit Norbert von Hellingrath, dem Hölderlinforscher, verlobt gewesen. Er ist 1916 gefallen. Es muss ein sehr kultiviertes Haus gewesen sein, Norbert von Hellingraths Mutter war die rumänische Prinzessin Cantacuzino. Imma hat eine Zeitlang dort gewohnt, ich glaube nach dem Tod ihres Verlobten, um ihre Schwiegereltern zu pflegen. Seine Schwester, Elisabeth von Hellingrath, habe ich manchmal bei Imma getroffen. Es ist ein schöner Gedanke, dass Imma Rilke noch gekannt hat. Sie stand auch dem Kreis um Stefan George nahe. Immas Vater war der bekannte Universitätsprofessor Christian von Ehrenfels (Über Gestaltqualitäten). Und dann war noch da meine Freundin, meine Schulfreundin, die ich kennengelernt habe als ich sieben Jahre alt war, mit der ich noch immer befreundet bin. Wir haben sehr viel miteinander diskutiert. Für Kunst hat sie sich nicht so sehr interessiert, dafür Philosophie, wie ich auch. Nur war sie gebunden, nicht konfessionell gebunden, sondern in einer bestimmten Richtung gebunden und das war für mich manchmal etwas schwierig, weil ich sie nicht verletzen wollte in der Diskussion. Aber trotzdem war es für uns beide interessant, miteinander zu reden. Sie war auch ein Mensch, der an andere gedacht hat und sich selbst zurückstellen konnte. Darum ist sie auch Ärztin geworden, allein aus dem Grund, um den Menschen zu helfen. Und sie ist es auch heute noch und lehnt es ab, sich pensionieren zu lassen. Sie wird sehr verehrt von ihren Patienten, für die sie immer da ist. Im Krieg war sie sehr im Einsatz. Während die Bomben fielen ist sie mit dem Volkswagen herumgefahren und hat nach Verletzten und Verwundeten gesucht und hat sie ins Krankenhaus gebracht. Mein Vater war auch wichtig für mich. Er war auch künstlerisch begabt, er spielte sehr gut Geige und schrieb und zeichnete. Als ich noch sehr klein war, hat er viel mit mir gezeichnet. – Er war ein Pflichtmensch, unermüdlich, nie habe ich ihn untätig gesehen, sehr genau, sehr ordentlich, fast pedantisch. Er war gut und selbstlos, er hat vielen Menschen geholfen. Er war fest davon überzeugt, dass aus mir etwas werden würde und hatte die Freude, meine Ausstellungen zu erleben.

An Tilly muss ich denken. Auch sie war wichtig für mich. Sie hat ein sehr schweres Leben gehabt. Ich will nicht näher darüber sprechen, nur sagen, dass sie als junges Mädchen durch einen Unfall ein Bein verloren hat. Sie ist sehr alt geworden, aber sie hat sich nie dadurch behindern lassen. Nie hat sie geklagt, sie war sehr tapfer und stark. Sie war für alle da, die Trost, Rat und Hilfe brauchten, sie war klug und gütig, sie hat alles verstanden. Von Beruf war sie ausgebildete Kunstgewerblerin, sie hat zauberhafte Muster für kunstvolle Stickereien entworfen, die sie selber ausgeführt hat oder ausführen hat lassen. Sie war die schönste Frau – bis ins hohe Alter -, die je gesehen habe, ein klares, rosiges, glattes Gesicht unter weißen Locken. Sie hatte großes Kunstverständnis.

I.: Und Deine Brüder?

Ch. W. – W.: Mit denen habe ich mich sehr gut verstanden, aber sie waren ja jünger als ich. Der eine war 5 Jahre jünger, der andere war 7 Jahre jünger und ich habe ja früh geheiratet, bin vorher schon von zu Hause weg, hab‘ auswärts studiert, in Wien und Paris. Heinz ist 1942 als U-Boot-Offizier gefallen und Reinhard ist vor 6 Jahren an den Folgen seiner schweren Verletzung gestorben.

Meinen Cousin Hans darf ich nicht vergessen. Er brachte Glanz und Abenteuer in unsere Kindheit. Er war etwa 20 Jahre älter als ich. Als er 15 war, hat ihn das Gymnasium nicht mehr gefreut und er ist von zuhause weggelaufen, um Seemann zu werden und das ist er auch geblieben. Er konnte wunderbar erzählen, wenn er kam, war es jedes Mal ein Fest, er kannte ja die ganze Welt. Und diese bunte Welt wollten wir Kinder kennenlernen, mit ihren großen Meeren, den fremden Ländern und Völkern. Sein Bruder Gerhard war übrigens Tiermaler, er ist im ersten Weltkrieg gefallen. Sein Bruder Willi ist Jurist.

I.: Was könntest Du denn überhaupt sagen, sind so die wichtigsten Ereignisse in Deinem Leben, die Dich am meisten beeindruckt haben?

Ch. W. – W.: Dass ich meinen Mann kennengelernt habe, meine Kinder sind mir wichtig und dann der Krieg natürlich war ein einschneidendes Erlebnis, über das ich nicht gerne sprechen möchte.

I.: Etwas ganz anderes. Schopenhauer sagt so etwas Ähnliches wie: 
Das ganze Leben ist ein Pendeln zwischen den Extremen Langeweile und Schmerz. Viele Menschen haben sich schon mit der Suche nach Glück beschäftigt. Augustinus sagt: „Glücklich ist, wer alles hat, was er will“. Was ist für Dich Glück?

Ch. W. – W.: Darüber habe ich nie nachgedacht. Die Frage stellt sich mir nicht. Eines ist einmal sicher, dass kein Mensch einen Anspruch auf Glück hat. Glück, das ist ein schillernder Begriff und bedeutet für jeden etwas anderes. Glück – das kann ein Ereignis sein oder ein Zustand, wobei man wünschen würde, dass der Zustand eine gewisse Dauer haben sollte. Wie schwierig das ist, sehen wir ja schon im Faust: „Wer immer strebend sich bemüht, den werden wir erlösen“, das sagt ja schon alles.

I.: Aber Du bist doch manchmal glücklich?

Ch. W. – W.: … das kommt mir so künstlich vor zu sagen, ich will glücklich sein oder ich bin glücklich.

I.: Die Menschen haben dicke Bücher darüber geschrieben.

Ch. W. – W.: Ja. Die hätten lieber etwas tun sollen.

I.: Tu das Nötige, tu das Nötige gleich, tue das Nötige in Voll- kommenheit.

Ch. W. – W.: Das sollte man sich bemühen. Ja.

I.: Aber über die Freude sprichst Du.

Ch. W. – W.: Ja. Über die Freude, das ist auch für jeden etwas anderes. Freude, wenn die Sonne aufgeht, wenn der Tag beginnt, dann ist alles neu und frisch, die Vögel singen, die Farben leuchten, wie sie es am Morgen tun und am späten Nachmittag

…. mittags sind die Farben ja eher blass. 

I.: Dich freut die Natur.

Ch. W. – W.: Sehr, ja. Auch die Menschen, … Ja. Besonders die Menschen, die guten Willens sind.

I.: Die Menschen und die Natur …

Ch. W. – W.: Ja. Und die Kunst.

I.: So viele moderne Maler finden die Natur langweilig, zu sehr verwendet, zu sehr benutzt.

Ch. W. – W.: Das ist sehr oberflächlich gesehen. Die Natur ist uner- schöpflich, immer wieder neu und anders, immer wieder gibt es andere Blickpunkte. Das gilt auch in Bezug auf die Menschen. Ich habe immer das Glück gehabt, naturnahe wohnen zu dürfen und habe das immer angestrebt. Ich könnte gar nicht ständig in einer Stadt leben, obgleich ich auch in vielen Großstädten gelebt habe. Aber immer habe ich getrachtet, der Natur nahe zu sein und ich finde das ganz wichtig. Diese künstlichen Paradiese, die sind mir zuwider. Da hab‘ ich gar kein Verständnis.

I.: Warum? … die Städte?

Ch. W. – W.: Alles das, ja.

I.: Warum?

Ch. W. – W.: Natürlich gibt es schöne Städte mit wunderschönen Bauten, mit herrlichen Gärten, das gibt es auch. Aber immer drin wohnen …

I.: Anscheinend stört Dich alles, was mit Masse zu tun hat …

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Ich erinnere mich, wir sind in ein Warenhaus gegangen einmal in Bremen und sofort, fast unmittelbar nach dem Eintritt in das Warenhaus, wieder hinaus.

Ch. W. – W.: Ja.

I.: Du warst angewidert, wir haben gar nicht lange drinnen bleiben können.

Ch. W. – W.: Ja, das macht mich elend. Die Masse Mensch. Es ist

entsetzlich, ein Punkt in einer großen Menschenansammlung zu sein, es sind mir auch widerwärtig irgendwelche Massenbewegungen. Gewiss, es mag vielleicht manchmal zweckmäßig sein, sich zusammenzuschließen, aber ich kann damit nichts anfangen. Das ist mir ganz fremd. Mich hat immer nur der einzelne Mensch interessiert.

I.: Der Mensch tritt aber sehr viel in Gruppen auf.

Ch. W. – W.: Es ist die anonyme Masse, die ich nicht mag. Ich mag Menschen, die zusammenkommen, weil sie gemeinsame Interessen haben und gemeinsame Dinge tun, die ihnen wichtig sind und die miteinander Gedanken austauschen können. Als Beispiel, in den letzten Tagen hatte ich ein schönes Erlebnis. Freunde hatten zu einem kleinen Konzert geladen, das eine befreundete schottische Musikstudentin mit den drei ältesten ihrer sechs Kinder gab. Die Instrumente waren Keltische Harfe, Barockharfe, Flöte, Hackbrett, Tamburin und Triangel. Das Programm enthielt deutsche und englische Volkslieder, deutsche Tänze und Menuette, ein Stück von Händel und einen irischen Marsch, der mir ganz neu war. Der hat mich erschüttert und alle anderen auch. Die Melodie war so schön und der Rhythmus aufrüttelnd und mitreißend. Es war ein Marsch aus dem elften Jahrhundert, für tausend Harfenspieler, mit denen hat der irische König Brian Ború die Wikinger in die Flucht geschlagen. Die junge Schottin und die Kinder waren ernst, diszipliniert und gesammelt. Das war schön zu sehen. So sollten Kinder aufwachsen, dass sie Dinge gemeinsam tun, die über das Alltägliche hinausgehen. Das darf nicht verloren gehen.

I.: Ich erinnere mich damals in dem Warenhaus, dass Du angewidert warst von der Gier.

Ch. W. – W.: Auch das, ja.

I.: Von der Hast und der Gier.

Ch. W. – W.: … die Gier ist etwas ganz Entsetzliches. Das hat es wahrscheinlich immer gegeben, aber es wird so krass und es sind so viele nutzlose Dinge, die produziert werden und die die Menschen unbedingt haben müssen … Und weltweit ist das so. Wie lang wird es noch dauern und die alten Traditionen des Handwerks und Kunstgewerbes sind abgerissen, die jetzt noch – in Indien und im Fernen Osten z.B. - so stark in der Vergangenheit wurzeln. Ein enormes künstlerisches Potential! Ich denke an die indischen Tanzgruppen, die ich gesehen habe, die schönen Instrumente, den wundervollen Schmuck, die prächtigen, farblich fein abgestimmten Gewänder, handgewebt, golddurchwirkt, phantasievoll bestickt. Jetzt werden schon hässlich bedruckte Saris aus Kunstfaser getragen, die nicht temperaturausgleichend sind und leicht brennbar. Auf der ganzen Welt findet eine Nivellierung statt, die Städte gleichen einander immer mehr, die Eigenart geht verloren. Überhaupt die Entwicklung, die die Menschheit jetzt genommen hat, dass da zwei Supermächte sind, die um die Vormachtstellung ringen, scheint mir ganz falsch zu sein. Man vergisst die physische Größe des Menschen. Es sollte kleinere Länder geben, wo alles überschaubar ist, wo der Einzelne sich als Mensch fühlen und ein sinnvolles Leben führen kann. Nicht wie in den Riesenreichen, wo er sich nutzlos und ohnmächtig vorkommt, vergessenswürdig, verglichen mit der Größe des Reiches. In kleineren Ländern könnte auch die Kultur besser gedeihen, wie früher z.B. in Weimar. Es könnte trotzdem, wie damals, ein reger kultureller Austausch mit anderen Ländern sein. Ich weiß, das ist utopisch, ein Traum. Wieder einmal, man kann die Entwicklung nicht zurückdrehen und nicht aufhalten. Aber trotzdem, ohne Träume gibt es keine Entwicklung, keinen „Fortschritt“ – kein Leben. Mir fällt auf, dass wir in diesem Gespräch relativ oft den Konjunktiv, die Möglichkeitsform, verwendet haben, das heißt, die grammatikalische Form, die das Hoffen, Fürchten, Drohen etc. und vor allem das Wünschen ausdrückt (oft konditional gebraucht), andererseits haben wir gesagt: nicht postulieren, aber es geht nicht ohne. Wir leben ja mit der Polarität, z.B. wir brauchen die Nähe und die Distanz. Die menschliche Nähe zu bewältigen, kann uns der kategorische Imperativ helfen, die Freiheit des Einzelnen – das muss jeder für sich lösen. Ob man einmal mit dem chinesischen Weisen Meng Hsiae sagen wird:
„Wenn einer alt geworden ist und das Seine getan hat, steht ihm zu, sich in der Stille mit dem Tode zu befreunden. Nicht bedarf er der Menschen. Er kennt sie, er hat ihrer genug gesehen. Wessen er bedarf ist Stille. Nicht schicklich ist es, einen solchen auszusuchen, ihn anzureden, ihn mit Schwatzen zu quälen. An der Pforte seiner Behausung ziemt es sich, vorbeizugehen, als wäre sie niemandes Wohnung“. 
Ich hab‘ noch Träume, ich möchte noch arbeiten.