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Die Malerin Charlotte Walther – Wipplinger

Kunst als Selbstbehauptung

 von Wolfgang Hilger (1985)

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Ihre erste Einzelausstellung, 1933 in der Pariser Galerie Vignon, war für die blutjunge Künstlerin ein beachtlicher Erfolg. 1935 platzierte Peter Lüders, der mutige Hamburger Galerist und Förderer sachlich-realistischer Tendenzen, in seinem Kunstraum ihre subtilen Aktbilder neben Arbeiten von Ernst Barlach, Otto Dix und Franz Radziwill. Hamburgs Kritiker fanden einhellig Worte hohen Lobes. In den folgenden drei Jahren präsentierte sie Peter Lüders mit größeren Einzelkollektionen, 1937 folgte eine Ausstellung im Hildesheimer Kunstverein, wo zwei Bilder sogar Anstoß erregten und als „entartet“ abgehängt werden mussten. Im Übrigen konstatierten damalige Kritiker hohe Begabung, würdigten ein bereits ausgereiftes malerisches und grafisches Werk und prognostizierten Erfolg und Anerkennung. Vor allem Hamburgs Kunstszene, dominiert von liberalen Kreisen, die der offiziellen deutschen Kunstpolitik eher skeptisch gegenüberstanden, war auf Charlotte Walther – Wipplinger aufmerksam geworden.

1938 übersiedelte die Künstlerin mit ihrer Familie in das niederösterreichische Weitenegg an der Donau, wo ihr Ehemann den väterlichen Industriebetrieb übernommen hatte. Nicht nur die Kriegsjahre und die bei einem Leben am Land gegebene Distanz zu großstädtischen Künstlerkreisen bewirkten in der Folge, dass Charlotte Walther – Wipplinger ihre Arbeiten der Öffentlichkeit weitgehend vorenthielt, auch die familiären Belastungen einer fünffachen Mutter und die durch ihr polyglottes Talent bis zum heutigen Tag nötige Mitarbeit im Familienbetrieb schränkten die künstlerische Tätigkeit notgedrungen ein.

Eine in Norddeutschland früh entdeckte und gewürdigte Künstlerin blieb somit bis vor kurzem selbst profunden Kennern der heimischen Kunstszene verborgen.

Charlotte Walther – Wipplinger wurde am 14. Juni 1911 in Kiel geboren. 1913 übersiedelte ihre Familie nach Hamburg. Frühzeitig erkannten und förderten die musisch interessierten Eltern die Talente ihres Kindes. Probleme gab es erst, als die Neigung zur Kunst sich mit einem Berufsziel verband. Dennoch setzte Charlotte Walther ihren Wunsch durch, studierte ab 1931 bei Arthur Illies an der Hamburger Kunsthochschule, sodann bei Carl Fahringer an der Akademie der bildenden Künste in Wien und bei Charles Blanc in Paris. Die Kunst dieser Stadt sollte für sie entscheidend werden. Daneben inskribierte sie, einem sehr persönlichen studium generale folgend, an den einzelnen Universitäten Kunstgeschichte, Philosophie und Völkerkunde und vervollkommnete ihre Sprachkenntnisse.

In ihrer Entwicklung als Malerin sollte die französische Kunst für sie entscheidend werden. Allerdings beeinflusste sie nicht jener Kreis avantgardistischer Künstler, die von Kubismus oder Surrealismus ihren Ausgang nahmen, sondern die an den Akademien gelehrte, eher traditionsgebundene Kunst, die sich eines soliden und höchst kultivierten Kolorismus bediente. Charlotte Walther lernte die exzellente Farbigkeit der Bilder Henri Toulouse-Lautrecs sowie Marie Laurencins kennen. Jules Pascins Mädchenbilder müssen sie fasziniert haben, denn ihre wie von zarten Farbschleiern umflorten Aquarelle, die meist weibliche Akte oder Porträts zum Gegenstand haben, weisen nicht zufällig große stilistische Parallelen zu Pascins Arbeiten auf.

Auch in privater Hinsicht bestimmte der Pariser Aufenthalt ihr weiteres Leben. Hier heiratete sie 1933 den gleichaltrigen, aus Wien stammenden Studenten Evert Wipplinger.

Unter den bereits erwähnten Besprechungen ihrer frühen Hamburger Ausstellungen fällt auf, dass die meisten Kritiker auf die zweifellos wesentlich französisch inspirierte, von hoher künstlerischer Noblesse bestimmte Komponente hinwiesen. Nicht weniger wichtig ist das lokale norddeutsche Erbe in ihrer Malerei. Natürlich kannte sie Arbeiten der Worpsweder Künstlerkolonie, und auch in thematischer Hinsicht findet sich in den zahlreichen Kinderbildern eine bemerkenswerte Affinität zum Werk von Paula Modersohn-Becker. In den frühen Landschaften mit ihrem herben, kargen Reiz, gemalt mit stumpfen Farben, denen alle impressionistische Gelöstheit fehlt, bleibt die deutsche Tradition unverkennbar.

Charlotte Walther – Wipplinger ist keiner der zahlreichen realistisch dominierten Kunstströmungen unseres Jahrhunderts zuzuordnen. Gewiss vermeint man in den Werken der dreißiger Jahre einen Hauch der „Neuen Sachlichkeit“ zu verspüren. Allzu viele Künstler standen damals an einem Scheideweg, und der Schritt zum banalen, von politischer Gleichschaltung dominierten Realismus fiel manchem gar nicht so schwer. Charlotte Walther – Wipplinger wusste sich ihre Individualität zu bewahren. Ihre Kunst blieb indifferent, d. h. so gemäßigt, dass sie nicht als entartet gelten konnte, und doch von jener formalen und inhaltlichen Freiheit, die sich einer Vereinnahmung durch die Goebbelssche Kulturdiktatur entzog.

Ein Kriegsende voller Schrecken, mit Not und der Sorge ums nackte Überleben, verschlug die kinderreiche Familie vorerst für drei Jahre nach Tirol. Materielle Entbehrungen kennzeichneten auch die folgenden Jahre (1948 – 1952) in Wien, wo sich wieder vereinzelte Kontakte zu Galerien und Künstlern eröffneten. Eine abermalige Veränderung bedeutete ein auch künstlerisch prägender Aufenthalt in Südamerika (1952 – 1955). Erst nach 1955 konnte der Weitenegger Familienbetrieb wieder übernommen und neu aufgebaut werden.

All dies bewirkte – wie bereits während des Krieges – bei Charlotte Walther – Wipplinger zwar die Reduktion ihrer künstlerischen Tätigkeit, niemals jedoch Aufgabe und Resignation. Einige Ausstellungsbeteiligungen in Wien nach dem Krieg, 1948 in der Galerie Würthle, 1950 in der Secession, 1952 in den Wiener Werkstätten, brachten einen Neubeginn, den die Auswanderung nach Südamerika jäh unterbrach. In Österreich wurde ihr Werk weiterhin nicht bekannt.

Einmal hatten Wiens Künstler von vornherein eine andere künstlerische Tradition, zum anderen standen die jüngeren österreichischen Nachkriegskünstler im Banne einer sich notwendigerweise begierig gebärdenden Rezeptionsbewegung, der die lange geschmähten Werke der klassischen Moderne vorerst wichtiger erscheinen mussten als diverse realistische Strömungen, die in der Vorkriegszeit wurzelten.

Diese Situation und die mehrmaligen, familienbedingten Veränderungen des Lebensbereichs bewirkten bei Charlotte Walther – Wipplinger einen keineswegs von Resignation bestimmten Rückzug ins Private. Stets hatte sich ihre Kunst thematisch an der Familie orientiert, am persönlichen Dialog mit einem Modell oder mit der unmittelbar erlebten Umwelt. In einem von wechselnden Interessen und Parteiungen dominierten Kunstbetrieb konnte und wollte sie niemals Fuß fassen.

Sie bewahrte sich, unbeschadet aller Verpflichtungen, eine spontane Erlebnisfähigkeit, eine Fähigkeit, auf optische Reize stets von neuem kreativ zu reagieren. Mi der gleichen künstlerischen Neugierde, mit der sie noch im Paris der Vorkriegszeit Studien von Afrikanern gezeichnet hatte, setzt sie sich 20 Jahre später mit den exotischen Menschentypen Südamerikas auseinander oder fixiert Eindrücke aus der tropischen Vegetation zu unerwartet buntfarbigen Kompositionen. Diese weitgehend im und für den privaten Bereich entstandene Kunst – und dies ist rückblickend das Erstaunliche – lief dabei niemals Gefahr, ins Provinzielle abzugleiten oder zu erstarren. Neben der künstlerischen Spontaneität und Empfindsamkeit dominiert bei Charlotte Walther – Wipplinger der kritische Intellekt einer vielseitig gebildeten Weltbürgerin.

Bei aller geistigen Konstanz ist die Vielgestaltigkeit der malerischen Ausdrucksformen in Charlotte Walther – Wipplingers Bildern überraschend. Vom subtilen Kolorismus der Anfänge reicht das Spektrum bis zu expressiver Farbigkeit. Vor allem in den letzten Jahren entstanden leuchtende Blumenbilder, inspiriert von der Pracht ihres Weitenegger Gartens. Dennoch hat ihr die Natur immer nur zu einfachen Motiven verholfen. Die Gestaltung durch Pinsel oder Stift obliegt dagegen der schöpferischen Freiheit, der persönlichen Interpretation. In diesem Sinn sind ihre Porträts, seien es Familienmitglieder, Freunde oder Modelle, kleine psychologische Essays zur jeweiligen Persönlichkeit.

Sie hat Mädchenakte gemalt, die eine ungewöhnliche, natürlich-erotische Sinnlichkeit ausstrahlen, aber auch das Gefährdete einer Existenz in einer bloß äußerlichen Nacktheit deutlich bewusst machen.

Kunst versteht sie selbst als behutsam handzuhabendes Medium, um sich ideell und gestaltend von der banalen, augenfälligen Alltäglichkeit zu lösen.

In den letzten Jahren hat in der Kunstwissenschaft eine intensive Beschäftigung mit der Kunst der Zwischenkriegszeit eingesetzt. Ausstellungen und Publikationen haben uns gezeigt, dass neben den avantgardistischen Strömungen, die als Ismen oder Schulen in die Kunstgeschichte eingegangen sind, gerade in den zwanziger und dreißiger Jahren eine breite Schicht qualitativ bemerkenswerter Künstler tätig war, die vorwiegend realistischen Tendenzen zuneigten. Man hat diese Maler aufgrund der historischen Situation als Vertreter einer „verlorenen Generation“ bezeichnet.

Auch die Neuentdeckung des Werkes von Charlotte Walther – Wipplinger sollte in diesem größeren Zusammenhang gesehen werden. Nicht die Abkehr von verwirrenden Avantgardismen ermöglicht wieder den Zugang zu Werken dieser Generation, sondern das Anerkennen einer Basis, die der historischen Vielgestaltigkeit gerecht wird.

Ein persönlicher, eher flüchtiger Kontakt vermittelte Günter Busch, dem früheren Direktor der Kunsthalle in Bremen, die Kenntnis von Arbeiten Charlotte Walther – Wipplingers. Ihn muss es seltsam berührt haben, von einer im fernen Österreich lebender Künstlerin norddeutscher Herkunft zu erfahren, deren frühe Bilder die Nähe zur Schule von Worpswede nicht verleugnen können. Es war dann auch kein weiterer Zufall, dass im Jänner 1985 in der Kunsthalle von Worpswede die erste umfassende Retrospektive eröffnet wurde. Günter Busch würdigte im gleichzeitig erschienenen Katalogbuch Leben und Werk der Künstlerin.

Der längst fällige Kontakt zu den Kulturinstitutionen des Landes beruht ebenfalls auf purem Zufall. Als der Melker Bezirkshauptmann Hadmar Lechner dem Ehepaar Wipplinger zur Goldenen Hochzeit die Grüße des Landes überbrachte, erkundigte er sich nach dem ihm unbekannten Maler der zahlreichen Bilder im Hause Wipplinger. Die vom überraschten Gratulanten informierte Kulturabteilung konnte im März 1985 die aus Worpswede kommende Ausstellung für das Niederösterreichische Landesmuseum übernehmen.

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Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift „morgen 44/85“.


Dr. Wolfgang Hilger,

geboren 1943 in Wien, Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Germanistik. Er war tätig u.a. am Institut für Österreichische Geschichtsforschung, an der Akademie der Wissenschaften, in der Kulturabteilung der Niederösterreichischen Landesregierung, war Kunstreferent der Kulturabteilung der Stadt Wien, hatte Lehraufträge an den Universitäten in Wien und München sowie an der Akademie der Bildenden Künste in Wien.